Mit der anstehenden, ausschließlich elektronischen Kommunikation in Vergabeverfahren kommt auch den Fällen eine deutlich höhere Bedeutung zu, bei denen aufgrund einer technischen Störung eine Angebotsabgabe nicht möglich gewesen ist. Auch wenn über die Analogie zum Briefkasten und zur postalischen Angebotsabgabe die bislang entwickelte Spruchpraxis zum (rechtzeitigen) Zugang von Angeboten grundsätzlich auf die E-Vergabe übertragen werden kann, bleiben IT-spezifische Fragestellungen und Abgrenzungsfragen.

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Dies zeigt auch ein aktueller (noch nicht bestandskräftiger) Beschluss der VK Baden-Württemberg vom 30.12.2016 (1 VK 51/16) der sich mit der Frage befasst, wann der Auftraggeber das Risiko technischer Probleme der E-Vergabeplattform tragen muss und Maßstäbe dafür aufzeigt, in welchem Umfang sich der Bieter im Hinblick auf die elektronische Angebotsabgabe bei etwaigen Problemen bemühen muss:

Lässt die Vergabestelle die Einreichung von Angeboten ausschließlich über eine an das Internet angebundene Plattform zu (E-Vergabe) und ist es einem Bieter – aus Gründen, die allein aus der Sphäre der Vergabestelle stammen – unmöglich und unzumutbar, sein Angebot nur der Form nach rechtzeitig abzugeben, darf das Angebot deswegen nicht ausgeschlossen werden. Die Vergabestelle hat den elektronischen Zugang zu ihrem Vergabeverfahren derart auszugestalten und wie einen offenen Briefkasten zur Verfügung zu halten, sodass sich auch Bieter ohne eigene IT-Abteilung schrankenlos beteiligen können müssen.

Gerade im Hinblick auf die Frage, welche Maßstäbe an eine E-Vergabeplattform als „offener Briefkasten“ anzulegen sind und welche Maßnahmen zur Abgabe einem Bieter zugemutet werden können, lohnt ein Blick in die Details des Beschlusses.

I. Angebote nur elektronisch über E-Vergabeplattform einzureichen

In dem konkreten Fall schrieb die Vergabestelle die Oberflächenabdichtung eines Müllabladeplatzes europaweit im offenen Verfahren aus. Sie legte fest, dass die Bieter ihre Angebote ausschließlich elektronisch einreichen durften. Sämtliche Bieter hatten hierzu eine von der Vergabestelle in den Vergabeunterlagen benannte, softwarebasierte Plattform zu nutzen. Die Frist für die Angebotsabgabe lief am 27.10.2016 um 10.00 Uhr ab. Die spätere Antragstellerin übermittelte – trotz technischer Probleme – ihr Angebot fristgerecht über die Internetplattform. Eine Konkurrentin, die spätere Beigeladene, versuchte bereits einen Tag zuvor, also am 26.10.2016, mehrfach, ihr Angebot zu übermitteln. Hierbei erhielt sie jedoch nur Fehlermeldungen im eingesetzten Bietercockpit, dass der Server nicht erreicht werden könne. Am 27.10.2016, dem Tag des Fristablaufs, versuchte sie ab 8:45 Uhr erneut, ihr Angebot über die Internet-Plattform zu übermitteln. Auch dies funktionierte nicht. Auch die Mitarbeiter im Support des Plattformbetreibers konnten das Problem nicht lösen. Erst nach Einschaltung der höheren Kundendienstabteilung (2nd-Level) wurde der Beigeladenen nach Fristablauf um 13:39 Uhr ein Lösungsvorschlag übermittelt, mit dem ein Angebot – verfristet – abgegeben werden konnte. Über die Internetplattform reichte sie so ihr Angebot um 14:34 Uhr ein, also über vier Stunden nach Ablauf der Angebotsfrist. Zuvor hatte die Beigeladene ihr Angebot bereits als unverschlüsselten Anhang zu einer E-Mail eingereicht. Diese E-Mail erreichte die Vergabestelle um 9:56 Uhr. Geöffnet wurden sämtliche Angebote, auch der Anhang zur E-Mail, durch die Antragsgegnerin am gleichen Tag um 15:15 Uhr. Der Inhalt beider Angebote war identisch.

Damit lagen der Vergabestelle inhaltlich identische Angebote vor, ein formwidriges, dafür fristgerechtes (per E-Mail) sowie ein formgemäßes, dafür verfristetes (über die E-Vergabeplattform).

Beide Angebote behandelte die Vergabestelle als zwei verschiedene Angebote: Das per E-Mail eingegangene Angebot schloss sie mangels Verschlüsselung aus. Das über die E-Vergabeplattform übermittelte Angebot der Beigeladenen sah die Vergabestelle dagegen als rechtzeitig eingegangen an. Hiergegen wandte sich die Antragstellerin mit einem Nachprüfungsantrag: das Vergabeverfahren sei unter Ausschluss (aller) Angebote der Beigeladenen fortzusetzen.

II. Technische Schwierigkeiten in der Sphäre des Auftraggebers dürfen nicht zu Lasten des Bieters gehen

Im Ergebnis ohne Erfolg. Die Vergabestelle hat das Angebot der Beigeladenen aus Sicht der Vergabekammer zu Recht berücksichtigt. Das Angebot sei nicht gemäß § 16 EU Nr. 1 VOB/A 2016 als zu spät eingereicht auszuschließen.

Dass der Weg zu einer entsprechenden Auslegung der insoweit strikten Regelung des § 16 EU Nr. 1 VOB/A kein einfacher ist, zeigen mithin auch die Ausführungen der Vergabekammer:

Ob im Sinne des GWB-Vergaberechts ein oder zwei Angebote der Beigeladenen vorliegen, sei hier nicht zu entscheiden. Denn unabhängig von der rechtlichen Bewertung stehe fest, dass das Angebot – jedenfalls dem Inhalt nach – die Antragsgegnerin fristgemäß erreicht habe. Daraus folge noch nicht zwingend, dass ein Angebotsausschluss gemäß § 16 EU Nr. 1 VOB/A ausscheide. Die Tatsache aber, dass ein – wenn auch nicht formgerechtes – Angebot rechtzeitig vorlag, führe indes eine allein am Wortlaut orientierte Anwendung des § 16 EU Nr. 1 VOB/A an ihre Grenzen. Stelle man ausgehend von einer formellen Betrachtungsweise nur auf ein anhand der Vorgaben der Vergabestelle formgerecht erstelltes Angebot ab, müsse das Angebot der Beigeladenen ausgeschlossen werden. Erfasse § 16 EU Nr. 1 VOB/A aber auch lediglich dem Inhalt nach rechtzeitig übermittelte Angebote, scheide ein Ausschluss aus.

Eine grammatikalische Auslegung des § 16 EU Nr. 1 VOB/A löse den vorliegenden Streit also nicht. Genau wie Gesetze, Verordnungen und Willenserklärungen sei aber auch bei Anwendung der VOB/A nicht am buchstäblichen Sinne zu haften, sondern geltendes Recht mithilfe der herkömmlichen Auslegungsmethoden anzuwenden.

Das führt nach Ansicht der Vergabekammer zu folgendem Syllogismus: Wenn die Ursache dafür, dass ein Bieter sein Angebot auch der Form nach auf der einzigen dafür bereitgestellten Internet-Plattform nicht rechtzeitig abgeben kann allein dem Auftraggeber zuzuordnen ist, darf sein Angebot nicht deswegen ausgeschlossen werden, weil es nicht rechtzeitig vorlag.

Technische Schwierigkeiten aus der Sphäre des Auftraggebers, z. B. beim Betrieb der technischen Mittel, dürfen nicht zu Lasten des Bieters gehen.

Richtig hingegen bleibt, dass der Bieter die für die Übermittlung benötigte Zeit vorab in Erfahrung bringen muss und diese bei der Angebotsabgabe einzuplanen hat. Unterlaufen ihm hierbei Fehler, gehen diese zu seinen Lasten. Auch bei elektronischen Angeboten trägt der Bieter das Übermittlungsrisiko. Mithin obliegt es ihm damit auch, Postlauf- oder Fahrtzeiten richtig einzuschätzen. Ein solcher Fall lag hier aber nicht vor, da u.a. die Beigeladene bereits am Tag zuvor die Angebotsabgabe versucht hatte und zudem auf der betroffenen E-Vergabeplattform vorher in anderen Ausschreibungen erfolgreich elektronische Angebote abgegeben wurden. Zudem hatte die Beigeladene bereits am 25.10. im Hinblick auf die baldige Angebotsabgabe eine Testsignatur im Bietercockpit – analog den Vorgaben im Benutzerhandbuch – angebracht, um sicherzugehen, dass es wegen des zu verwendenden Kartenlesegeräts und der Signaturkarte nicht zu Fehlern kommt. Dieser Versuch war erfolgreich verlaufen.

Im Ergebnis ist der elektronische Zugang für die Bieter damit (bezogen auf diese Angebotsabgabe) vergaberechtswidrig ausgestaltet worden. Wenn die Vergabestelle sich dafür entscheidet, Angebote ausschließlich über eine bestimmte Internetplattform zuzulassen, hat sie dafür zu sorgen, dass diese Plattform wie ein Briefkasten oder eine Annahmestelle bis Fristablauf ohne weiteres zu erreichen ist.

III. Erste Einschätzung aus Sicht eines E-Vergabeanbieters

Die in dem konkreten Vergabeverfahren verwendete Internetplattform basiert nicht auf Technologie der cosinex. Dennoch lassen sich – unabhängig vom Einsatz einzelner Lösungen – Aspekte und Fragen für die Praxis ableiten.

1. Bietertools/-cockpits sind der Sphäre der Vergabestelle zuzuordnen!?

Für die Ende-zu-Ende-Verschlüsselung und insb. bei Einsatz einer sicheren Infrastruktur (z.B. auf Basis des OSCI-Standards) ist nach dem heutigen Stand der Technik ein (meist kleines) lokales Tool erforderlich, um die Angebot auf dem Rechner des Bieters zu signieren und (auch bei Einsatz der elektronischen Textform) zu verschlüsseln.

Diese Bietertools sind technischer Annex der vom Auftraggeber eingesetzten E-Vergabeplattform. Da die zu nutzende Plattform vom Auftraggeber vorgegeben wird, sind solche Tools und deren Funktionsfähigkeit folgerichtig damit auch der Sphäre der Vergabestelle zuzuordnen.

Im Rahmen des Beschlusses kaum beleuchtet ist der Umstand, dass solche Bietertools (technisch) in der Infrastruktur des Bieters betrieben werden, d.h. auf dessen Rechner und in dessen IT-Umgebung (Netzwerk), und das sie über dessen Internetanschluss mit der entsprechenden E-Vergabeplattform kommunizieren. Genau diese Infrastruktur ist unzweifelhaft der Sphäre des Bieters zuzuordnen. Wenn – wie anscheinend im vorliegenden Fall – ein Teil dieser Infrastruktur (hier wohl ein (sog.) Proxy-Server) dazu führt, dass das lokal installierte Bietercockpit keine Kommunikation zur E-Vergabeplattform aufbauen kann, wird die Grenzziehung der Risikosphären schwierig.

2. Gesamtumstände bei Angebotsabgabe berücksichtigt

Der zweite Leitsatz, dass die Vergabestelle den elektronischen Zugang zu ihren Vergabeverfahren derart auszugestalten habe, dass sich diese wie bei einem offenen Briefkasten ohne eigene IT-Abteilung schrankenlos beteiligen können, geht nur scheinbar sehr weit. Er relativiert sich allerdings im weiteren Verlauf der Begründung.

So wurde im konkreten Beschluss wiederholt darauf abgestellt, dass die Beigeladene bereits in der Vergangenheit erfolgreich Angebote elektronisch über die gleiche E-Vergabeplattform eingereicht, zwei Tage vor Ablauf der Angebotsfrist einen Test durchgeführt und schließlich einen Tag vor Ablauf der Angebotsfrist den ersten Versuch der Angebotsabgabe unternommen hatte. Nach Feststellung der Probleme wurde vor Ablauf der Angebotsfrist ein Angebot per E-Mail eingereicht sowie nach Behebung der Störung ein formgerechtes Angebot über das Bietercockpit (nach Ablauf der Angebotsfrist) eingereicht.

Unter Berücksichtigung des konkreten Sachverhalts und der Bemühungen der Beigeladenen wird man kaum zu einem anderen Schluss kommen können, als dass diesem Bieter unter Berücksichtigung sowohl vergabe-, als auch unionsrechtlicher Grundsätze dieses fast „vorbildliche“ Verhalten bei der Angebotsabgabe nicht zum Nachteil gereichen darf.

Eine generelle Anwendung des Leitsatzes ohne eine differenzierte Berücksichtigung der Gesamtumstände des konkreten Sachverhalts indes dürfte fehlgehen.

3. Infrastruktur des Bieters im Streitfall berücksichtigen

Im vorliegenden Fall war offenkundig das Wechselspiel zwischen dem eingesetzten Bietercockpit der E-Vergabeplattform und einem sog. Proxy-Server das bzw. ein Problem. Ein Proxy-Server kann, untechnisch ausgedrückt, als Kommunikationsvermittler in einem Netzwerk bezeichnet werden. Über ihn werden Anfragen der anderen Rechner im (Firmen-)Netzwerk – etwa zum Aufruf einer Internet- oder E-Vergabeplattform oder zum Download einer Datei an den entsprechenden Empfänger – weitergeleitet, ohne dass der Rechner, auf dem z.B. ein Bietertool installiert ist, direkt mit der E-Vergabeplattform verbunden wird. Technisch bündelt ein sog. Proxy-Server den Zugang z.B. zum Internet für die Rechner eines Firmennetzwerks. Über diese „Tür“ kommunizieren dann alle Rechner des Netzwerks nach außen.

Wenn nun die IT-Abteilung eines Bieters in der eigenen Infrastruktur einen sog. Proxy-Server einrichtet und (den Anforderungen des jeweiligen Unternehmens entsprechend individuell) konfiguriert, sodass dieser Proxy seinerseits die Kommunikation des Rechners, auf dem ein Bietertool der Vergabestelle installiert ist, so beeinträchtigt, dass dieses Bietertool dann eben nicht mehr „frei“ mit der E-Vergabeplattform kommunizieren kann, leuchtet nicht ein, warum diese zum Teil sehr individuellen Infrastrukturmaßnahmen und Beschränkungen, die eindeutig der Sphäre des Bieters zuzuordnen sind, nun bei Problemen im Wechselspiel der Komponenten stets der Vergabestelle zugerechnet werden sollen.

Zudem verfängt gerade in dieser Konstellation der Hinweis „ohne eigene IT-Abteilung“ nicht. Ohne eigene IT-Abteilung oder technische Unterstützung ist es kaum möglich, ein Firmen-Netzwerk mit einem solchen Proxy-Server einzurichten.

Wenn nun die Kommunikation zwischen einem (funktionierenden) Bietertool und der E-Vergabeplattform (Sphäre der Vergabestelle) nur daran scheitert, dass ein Unternehmen seinerseits mit der eigenen IT-Abteilung Infrastrukturen (mithin in dessen Sphäre z.B. Proxy-Server) aufbaut, die diese Kommunikation beeinträchtigen, kann umgekehrt von der Vergabestelle kaum verlangt werden, dass sie oder der von ihr beauftragte Plattformbetreiber die von beiden nicht beeinflussbaren und durch die individuell ausgestaltete Infrastruktur veranlassten Störungen beseitigt.

Den Syllogismus der Vergabekammer hierauf angewendet: Wenn die Ursache dafür, dass ein Bieter sein Angebot nicht form- und/oder fristgerecht auf der vom Auftraggeber bereitgestellten E-Vergabeplattform abgeben kann, durch den Auftragnehmer und seinen eigenen IT-Bereich gesetzt wird, kann sich dieser nicht darauf berufen, dass er sein Angebot auch ohne IT-Abteilung abgeben können muss.

Angesichts der vielfältigen und umfassenden Bemühungen der Beigeladenen erscheint im konkreten Fall die Abwägung im Ergebnis gleichwohl sachgerecht.

IV. Hinweise für die Praxis

Für die Praxis von Vergabestellen und Bietern lassen sich trotz des sehr individuellen Sachverhalts aus dem Beschluss der Vergabekammer Tipps für die Praxis ableiten:

1. Ausschluss oder nicht?

Der Fall zeigt zunächst ein faktisches Dilemma für Vergabestellen auf. Eine zu restriktive Handhabung des Angebotsausschlusses (gegen den sich dann ggf. der ausgeschlossene Bieter wendet) ist ebenso wenig sinnvoll oder rechtssicher wie eine zu lockere Handhabung bei der Zulassung (gegen den sich dann ggf. andere, zweitplatzierte Bieter wenden könnten). Vielmehr ist im Einzelfall zu beurteilen, wessen Sphäre ein vorgebliches technisches Problem zuzuordnen wäre und auch, welche Bemühungen der Bieter unternommen bzw. ob er „auf den letzten Drücker“ mit der Angebotsabgabe begonnen hat.

2. Betrachtung der Verantwortungssphären

Wie bereits bei der elektronischen Signatur (im Hinblick auf deren Gültigkeit) werden Vergabekammern in den nächsten Beschlüssen nicht umhin kommen, sich auch differenziert mit weiteren technischen Detailfragen auseinanderzusetzen, um zu ermitteln, welche Störungen wessen Sphäre zuzuordnen sind.

3. Angebote auch elektronisch nicht auf den „letzten Drücker“ abgeben

Für Unternehmen bzw. Bieter gilt auch im elektronischen Verfahren, dass Angebote keinesfalls „auf den letzten Drücker“ abgegeben werden sollten. Dies insbesondere dann, wenn mit der jeweiligen E-Vergabeplattform oder deren Bietertool noch keine praktischen Erfahrungen bestehen und nicht ausgeschlossen ist, dass ggf. Komponenten in der eigenen Infrastruktur des Unternehmens (Proxy-Server, Virenscanner o.ä.) zu potentiellen Problemen führen können.

Insbesondere dann, wenn aus dem eigenen Firmennetzwerk heraus Angebote abgegeben werden sollen, sollte bei der erstmaligen Angebotsabgabe die Verfügbarkeit technisch versierter Ansprechpartner auf Seiten der Bieter sichergestellt sein, um auszuschließen, dass nicht Komponenten der eigenen Infrastruktur die Kommunikation zwischen Bietertool und E-Vergabeplattform beeinträchtigen.