Ein aktueller Beschluss der VK Westfalen befasst sich mit der Frage, ob und in welchem Umfang die Dokumentation (hier: für die Angebotswertung) im Nachprüfungsverfahren nachgeholt werden kann.

Der Autor

Norbert Dippel ist Syndikus der cosinex sowie Rechtsanwalt für Vergaberecht und öffentliches Wirtschaftsrecht. Der Autor und Mitherausgeber diverser vergaberechtlicher Kommentare und Publikationen war viele Jahre als Leiter Recht und Vergabe sowie Prokurist eines Bundesunternehmens tätig.

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Viele Vergabestellen kennen das ungute Gefühl, wenn die Vergabeakte im Nachprüfungsverfahren an die Vergabekammer übersandt werden muss: Sind etwa Begründungen bei Ausnahmetatbeständen hinreichend nachvollziehbar? Und insbesondere auch die Frage: Ist die Angebotswertung im Vergabevermerk ausreichend dokumentiert worden? Gerade solcherlei Aspekte stellten sich auch im Zusammenhang mit der noch nicht abgeschlossenen Diskussion zur Schulnotenrechtsprechung oftmals als Achillesverse heraus.

In einem aktuellen Beschluss entschied die Vergabekammer Westfalen jüngst (01.02.2018, VK 1-39/17), dass die Dokumentation der Angebotswertung im Nachprüfungsverfahren in bestimmten Grenzen nachgeholt werden kann. Auch wenn gegen die Entscheidung sofortige Beschwerde bei dem OLG Düsseldorf eingelegt wurde, ist der Beschluss so spannend, dass er im folgenden Blog-Beitrag besprochen wird.

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I. Zum Sachverhalt

Die Vergabestelle schrieb die Erbringung von Postdienstleistungen in einem EU-weiten Vergabeverfahren aus.

In der Leistungsbeschreibung benannte die Vergabestelle u.a. folgende Zuschlagskriterien:

  • Preis (40%),
  • Zustellquote (30%),
  • Bewertung von Konzepten zur Qualitätssicherung und Vermeidung ungerechtfertigter Rücksendungen (15%) und
  • das Konzept zur Auswahl und Qualifikation des für den Auftrag vorgesehenen Personals (15%).

Die Punkteskala für die „Qualitätssicherung“ konkretisierte die Vergabestelle in ihrer Leistungsbeschreibung in der Weise, dass sie für ungenügende Konzepte 0 Punkte vergeben wollte, während für sehr gute fachliche Qualität 15 Punkte vorgesehen waren.

Teilweise waren die jeweiligen Kriterien mit entsprechenden Unterpunkten näher erläutert.

Nachdem die Bieterin die Mitteilung nach § 134 GWB erhalten hatte, stellte sie einen Nachprüfungsantrag. Insbesondere hielt sie es für vergaberechtswidrig, dass weder der Schriftsatz der Vergabestelle noch der im Rahmen der Akteneinsicht offengelegte Vergabevermerk eine nachvollziehbare Bewertung ihrer Konzepte enthalten habe.
U.a. seien lediglich Punkte vergeben worden, wobei es an einer nachvollziehbaren Begründung bzw. textlichen Erläuterung fehle. Dies verstoße gegen den Transparenzgrundsatz und müsse zur Wiederholung der Wertung führen.
Die Vergabestelle holte daraufhin die Dokumentation der Bewertung hinsichtlich der Angebote im laufenden Nachprüfungsverfahren nach. Die Vergabekammer hatte u.a. darüber zu entscheiden, ob dies zulässig war.

II. Die Entscheidung

Die Vergabekammer stellte zunächst fest, dass die Vergabestelle gegen den Transparenzgrundsatz aus § 97 Abs. 1 GWB verstoßen habe, weil die Dokumentation des Bewertungsvorgangs in Bezug auf die Angebote der Antragstellerin sehr lückenhaft und für Außenstehende nicht nachvollziehbar gewesen seien.

Letztlich seien diese Dokumentationsmängel aber im laufenden Nachprüfungsverfahren zulässigerweise behoben worden. Bei der Begründung ging die Vergabekammer in drei Schritten vor:

  • Zunächst skizzierte sie die Transparenzpflichten bei der Bewertung mit „Schulnoten“.
  • Dann erläuterte sie die sich daraus ergebenden Anforderungen an die Dokumentation der Wertungssysteme.
  • Abschließend äußerte sich die Vergabekammer zur Heilung von Dokumentationsmängeln bei der Wertung.

III. Zum Transparenzgrundsatz bei „Schulnoten“

Eingangs stellte die Vergabekammer die Grundzüge der Schulnotenrechtsprechung dar: Im Ergebnis hätten sowohl der EuGH (Urteil vom 14.7.2016, C-6/15 – Dimarso) als auch der BGH (Beschluss vom 4.4.2017, X ZB 3/17) entschieden, dass „die Vergabeunterlagen keine weiteren konkretisierenden Angaben dazu enthalten müssten, wovon die jeweils zu erreichende Punktzahl für das Konzept abhängen soll“.

Die Vergabekammer verwies jedoch auf die grundsätzliche Forderung des BGH, den Transparenzgrundsatz aus § 97 Abs. 1 GWB zu beachten. Der BGH habe explizit zu dem Fall Stellung genommen, dass sich der Auftraggeber eines aus Preis und qualitativen Aspekten zusammengesetzten Kriterienkatalogs bediene. In diesen Fällen müssten die für die Zuschlagserteilung maßgeblichen Erwägungen in allen Schritten so eingehend dokumentiert werden, dass nachvollziehbar sei, welche konkreten qualitativen Eigenschaften der Angebote mit welchem Gewicht in die Benotung eingegangen seien. Auch wenn dem öffentlichen Auftraggeber bei der Bewertung und Benotung ein Beurteilungsspielraum zustehe, seien seine diesbezüglichen Bewertungsentscheidungen in diesem Rahmen insbesondere auch darauf hin zu überprüfen, ob die jeweiligen Noten im Vergleich ohne Benachteiligung des einen oder anderen Bieters plausibel vergeben wurden.

Die Ordnungsmäßigkeit der Wertung müsse sich gemäß § 8 Abs. 1 Satz 2 VgV aus dem Vergabevermerk ergeben. Die Auftraggeber müssten das Vergabeverfahren von Anfang an dokumentieren und insbesondere textlich die Gründe für die Auswahlentscheidung und den Zuschlag im Vergabevermerk darlegen.

Von Praktikern, für Praktiker: Die cosinex Akademie

IV. Zur Dokumentationspflicht bei der Schulnotenvergabe

Vorliegend hielt die Vergabekammer die Wertungsdokumentation für nicht ausreichend transparent. Beispielsweise sei in verschiedenen Bewertungsbögen zu etlichen Unterpunkten lediglich eine Punktzahl von überwiegend „12 Punkten“ eingetragen worden, ohne dass es textliche Hinweise darauf gebe, warum „nur“ 12 Punkte vergeben worden sind.

Der Beurteilungsvorgang erfordere, dass der Auftraggeber seine Vorgaben anhand der Konzepte des Bieters abgleiche, also diese darauf anwende und dann nachvollziehbar und plausibel erläutere, warum man zu einem bestimmten Punktwert kommt.
Da bereits die Bewertung der Angebote der Bieterin für sich genommen nicht ausreichend dokumentiert worden sei, sei eine Relation zu den Angeboten der erstplatzierten Bieterin gar nicht herstellbar.

Ausdrücklich wies die Vergabekammer darauf hin, dass die Anforderungen an die Dokumentation des Bewertungsvorgangs nicht überspannt werden dürften. Die Verwendung von Tabellen, die Angabe von Stichpunkten oder knappe Formulierungen seien völlig ausreichend. Entscheidend sei, dass sich daraus plausibel ergebe, warum der Auftraggeber zu einer bestimmten Punktzahl gekommen sei. Dabei bleibe ihm weiterhin ein umfassender Beurteilungsspielraum erhalten, der vergaberechtlich nur eingeschränkt überprüft werden könne.

Allerdings dürfe auch nicht vernachlässigt werden, dass die Angebotswertung in Gänze nicht einem ungebundenen und völlig freien Ermessen des Auftraggebers überlassen bleiben darf, und zwar auch nicht auf der „letzten Meile“ der Auftragswertung. Denn dadurch würden willkürliche Bewertungen gestattet, und auch die Gefahr von Manipulationen erzeugt. Davor müsse der Wettbewerb als solcher sowie Bieterunternehmen durch Festlegen und Bekanntgeben transparenter Bewertungsmaßstäbe geschützt werden.

Die Dokumentation des Auftraggebers müsse zumindest derart transparent sein, dass die Bewertung nachvollzogen und die Manipulationsgefahr bei Massengeschäften dadurch zumindest eingeschränkt werden könne.

V. Zur Heilung der Dokumentationsmängel

Nach Ansicht der Vergabekammer könnten Dokumentationsmängel bei der Angebotswertung auch noch während eines laufenden Nachprüfungsverfahrens geheilt werden, sodass eine solche nachträgliche Wertung von der Vergabekammer überprüft werden könne.

Ausgangspunkt der Vergabekammer war u.a. eine einschlägige BGH-Entscheidung (Beschluss vom 8.2.2011, X ZB 4/10 (Abellio)). Laut BGH ergibt sich die Lösung aus einem Spannungsverhältnis: Einerseits sei zu berücksichtigen, dass insbesondere die zeitnahe Führung des Vergabevermerks die Transparenz des Vergabeverfahrens schützen und Manipulationsmöglichkeiten entgegenwirken soll. Andererseits gebe das Gesetz der Vergabekammer vor, bei ihrer gesamten Tätigkeit darauf zu achten, dass der Ablauf des Vergabeverfahrens nicht unangemessen beeinträchtigt werde. Mit dem vergaberechtlichen Beschleunigungsgrundsatz wäre es nicht vereinbar, bei Mängeln der Dokumentation im Vergabevermerk generell (und unabhängig von deren Gewicht und Stellenwert) von einer Berücksichtigung im Nachprüfungsverfahren abzusehen und stattdessen eine Wiederholung der betroffenen Abschnitte des Vergabeverfahrens anzuordnen.

Dieser Schritt solle vielmehr Fällen vorbehalten bleiben, in denen zu besorgen sei, dass die Berücksichtigung der nachgeschobenen Dokumentation lediglich im Nachprüfungsverfahren nicht ausreichen könnte, um eine wettbewerbskonforme Auftragserteilung zu gewährleisten. Nach Auffassung des BGH ist somit die Heilung von Dokumentationsmängeln denkbar, allerdings ist dies nur eingeschränkt möglich.
Daraus leitete die Vergabekammer ab, dass Dokumentationsmängel während eines laufenden Nachprüfungsverfahrens behoben werden könnten, soweit keine Manipulationsgefahr feststellbar sei.

VI. Keine Umfangsbegrenzung

Ausdrücklich verwies die Vergabekammer darauf, dass es nicht auf den Umfang der „Nachbesserung“ ankomme, sodass die Nachbesserung der Dokumentation auch sehr umfangreich sein könne. Hierbei ließ sich die Vergabekammer von der folgenden und durchaus schlüssigen Grundüberlegung leiten: Eine unzweifelhaft anerkannte wie geeignete Maßnahme zur Heilung solcher Dokumentationsmängel könne darin bestehen, dem Nachprüfungsantrag stattzugeben und dem öffentlichen Auftraggeber aufzugeben, die Auswertung der bereits vorliegenden Angebote erneut vorzunehmen und dann schriftlich seine Bewertung unter Berücksichtigung der Rechtsauffassung der Vergabekammer zu dokumentieren. Damit würde dann auch eine umfangreiche Nachbesserung zugelassen. In einem solchen Fall könne es deshalb keinen Unterschied machen, ob eine umfangreiche Nachbesserung vor oder nach einer Entscheidung der Vergabekammer durchgeführt werde. Auch die reine Nachholung der Dokumentation stelle keinen Vergaberechtsverstoß dar, soweit keine Manipulationsgefahr bestünde.

Dies stützte sie auf § 163 Abs. 1 Satz 4 GWB, wonach darauf zu achten sei, dass das Vergabeverfahren nicht unangemessen beeinträchtigt werde. Dieser Beschleunigungsgrundsatz verpflichte die Vergabekammer dazu, nicht generell bei Mängeln der Dokumentation eine Zurückversetzung anzuordnen, sondern stattdessen auf eine Wiederholung der betroffenen Abschnitte des Vergabeverfahrens hinzuwirken bzw. diese zu akzeptieren.

VII. Verhinderung von Manipulationen

Allerdings sei gerade bei einer solchen Fallkonstellation genau darauf zu achten, dass nicht im Nachhinein manipulativ ein Bewertungsergebnis dokumentiert werde, das es zuvor nicht gegeben habe.

Die Vergabestelle habe mit ihrem Schriftsatz die Dokumentationslücke zulässigerweise geschlossen und nachträglich die Verteilung der Punktwerte für die Konzepte der Bieterin erläutert und anhand von Stichpunkten ergänzt.

Anhaltspunkte dafür, dass hier die Wertung während des laufenden Nachprüfungsverfahrens manipulativ erfolgt sei, lägen nicht vor. Dabei geht die Kammer davon aus, dass eine abstrakte Manipulationsgefahr allein nicht ausreiche.

VIII. Bewertung

Bereits in einem jüngeren Blog-Beitrag zur Schulnotenrechtsprechung und der neuen Entscheidung des OLG Düsseldorf wurde darauf verwiesen, dass nach der Rechtsprechung die Transparenzdefizite bei der Bekanntgabe der Wertungskriterien durch gestiegene Anforderungen bei der Dokumentation der Wertung sowie der Formulierung der Leistungsverzeichnisse „kompensiert“ werden können.

Schafft man nun bei der Wertungsdokumentation weitere Freiräume, stellt sich unweigerlich die Frage, ob sich das Gesamtsystem noch als ausreichend widerstandsfähig gegenüber Manipulationsversuchen darstellt, gleichwohl erscheint die Argumentation der Vergabekammer mit Hinweis auf den Beschleunigungsgrundsatz und § 163 Abs. 1 Satz 4 GWB stringent.

Andererseits wird man die Gefahr nicht von der Hand weisen können, dass mit Blick auf die ohnehin sensiblen Wertungskriterien einzelne Vergabestellen auf die sicher praxisnahe Überlegung kommen könnten, einer Bekanntmachung „light“ nun noch eine Wertung bzw. Wertungsdokumentation „light“ folgen zu lassen. Im Fall der Fälle des Nachprüfungsverfahrens kann die Wertungsdokumentation ja nachgeholt werden. In der Gesamtschau wäre dies auch für die Vergabestellen sicher ein unbefriedigendes Ergebnis.

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