Im Zuge der Vereinfachung der kommunalen Vergabe durch das Gesetz zur Änderung kommunalrechtlicher Vorschriften sorgte ein Passus in der Gesetzesbegründung für Aufmerksamkeit, wonach in Nordrhein-Westfalen ein „Schweizer Modell“ umgesetzt werden solle.

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Konkret lautet der Passus im aktuellen Entwurfsstand des Gesetzes:

Insbesondere wird mit dem Wegfall der Bindung kommunaler Ausschreibungen an die VOB/A das sogenannte „Schweizer Modell“ im Land Nordrhein-Westfalen umgesetzt: Auch in der Schweiz erhält die Bieterin oder der Bieter mit dem wirtschaftlichsten Angebot den Zuschlag. Damit ist nicht immer der niedrigste Angebotspreis verbunden. Kriterien wie Qualität, Zweckmäßigkeit und Betriebskosten können durch die Kommune vorgegeben und damit berücksichtigt werden. Dadurch bekommt die Qualität einer Leistung im Rahmen einer kommunalen Ausschreibung wieder ein höheres Gewicht.

Die Auffassungen unter deutschen Vergabepraktikern, was damit gemeint sein könnte, gehen durchaus auseinander. Wir haben nachgefragt bei einem, der es wissen muss: Marc Steiner, Richter am schweizerischen Bundesverwaltungsgericht, bereicherte bereits das letztjährige Vergabesymposium mit einem “Blick über den Tellerrand” in Richtung Schweiz. Im Interview mit dem cosinex Blog erläutert er das Schweizer Modell.

Gibt es ein Schweizer Modell, Herr Steiner?

Eigentlich gibt es sogar zwei Schweizer Modelle oder Lösungen, und die eine baut auf der anderen auf. Wenn Sie gestatten, würde ich zuerst die frühere Schweizer Lösung darstellen, die übrigens auch die EU-Richtlinie 2014/24/EU beeinflusst hat.

Sehr gerne.

Also, nach dem Wortlaut des Government Procurement Agreement der WTO 1994 können die Mitgliedstaaten bzw. die Vergabestellen frei entscheiden, ob entweder das wirtschaftlich günstigste Angebot ermittelt oder rein nach dem Preis vergeben werden soll (Art. XIII Abs. 4 GPA 1994). Das ist die welthandelsvergaberechtliche Ausgangslage.

In unserem Kontext ist interessant, dass die EU-Richtlinie 2004/18/EG die Regelung des GPA (in Art. 53) einfach abgeschrieben und nichts weiter damit gemacht hat.

Die Schweizer sind hingegen einen eigenen Weg gegangen. Die Regierung wollte gemäß Gesetzesentwurf im Rahmen der Umsetzung des GPA 1994 auch einfach mehr oder weniger abschreiben. Aber dank dem einschlägigen Einzelantrag eines Baujuristen im Parlament, der sofort verstanden hat, dass damit die falschen Anreize gesetzt würden, wurde mit dem schweizerischen Beschaffungsgesetz vom Dezember 1994 gesagt, dass das wirtschaftlich günstigste Angebot, also die Ermittlung des besten Preis-Leistungs-Verhältnisses, die Regel und die reine Preisvergabe nur bei weitgehend standardisierten Produkten zulässig ist (Art. 21 aBöB).

Die Schweizer Lösung I war damals schon extrem progressiv.

Das ist die Schweizer Lösung I, und die war damals schon extrem progressiv, denn es galt ja ansonsten eher dieser neoliberale Groove „Marktöffnung, Wettbewerb, Geld“ und sonst interessiert uns nicht viel. Erst durch Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs, zum Beispiel im Helsinki-Bus-Fall, ist den Leuten klar geworden, dass man das ganzheitlicher sehen müsste.

Demgegenüber ist auf WTO-Ebene das GPA 2012 bei der freien Wahl zwischen der Frage nach dem besten Preis-Leistungs-Verhältnis und der reinen Preisvergabe geblieben (Art. XV Abs. 5 GPA 2012).

Im Rahmen der Erarbeitung der Vergaberichtlinien 2014 hat das Europäische Parlament versucht, die Schweiz I-Lösung in Europa zu kodifizieren. Das wird vor allem im sogenannten Rühle-Bericht II und der darauf aufbauenden Entschließung des EP vom 25. Oktober 2011 zur Modernisierung des öffentlichen Auftragswesens deutlich. Das wiederum kann ich so genau sagen, weil ich anlässlich einer Anhörung vom Mai 2011 der Nachhaltigkeitsexperte für den Binnenmarktausschuss war und dieses Thema im Rahmen der Vorbereitung des Hearings erörtert wurde.

Die Helvetisierung des EU-Vergaberechts hat zwar nicht ganz geklappt, weil die anderen Institutionen das so nicht wollten, aber es gibt in der Richtlinie 2014/24/EU im Artikel 67 Absatz 2 den folgenden Kompromiss: Die Mitgliedstaaten können vorsehen, dass die öffentlichen Auftraggeber nicht den Preis oder die Kosten allein als einziges Zuschlagskriterium verwenden dürfen, oder sie können deren Verwendung auf bestimmte Kategorien von öffentlichen Auftraggebern oder bestimmte Arten von Aufträgen beschränken.

Das ist nach meinem Verständnis auch ein klarer Schritt Richtung Qualitäts- statt Preiswettbewerb. Dasselbe gilt im Ergebnis für den Ansatz der Kommission, wonach der Akzent in der Richtlinie 2014/24/EU vom Einkaufspreis zu den Lebenszykluskosten verschoben wird.

Wie kam es dann zum Schweizer Modell II?

Im Rahmen der Vergaberechtsreform 2019 sollte die Frage adressiert werden, warum der Preis entgegen dem Konzept von Art. 21 aBöB immer noch so hoch und die Qualität noch immer so niedrig gewichtet wird. Man wollte den Vergabestellen ein Signal geben, dass man in Zukunft eine höhere Qualitätsgewichtung wünscht.

Damit das klappte, brauchten wir einen neuen Begriff. Bei „wirtschaftlich günstig“ gibt es immer noch zu viele Akteurinnen und Akteure, die sofort auf den Preis schielen. Wir wollten also eine neue Formel. Auch diese war im Entwurf der Regierung nicht vorgesehen, sondern wurde von anbieterorganisierenden Wirtschaftsverbänden, insbesondere aus dem Baubereich, erkämpft.

Klarer kann ein Bekenntnis zum Qualitätswettbewerb nicht sein.

Nach Artikel 41 des neuen Beschaffungsgesetzes erhält das vorteilhafteste Angebot den Zuschlag. Das entspricht übrigens auch dem Wortlaut des GPA, wo vom „most advantageous tender“ die Rede ist. Klarer kann ein Bekenntnis zum Qualitätswettbewerb nicht sein.

Das heißt, die Formulierung des nordrhein-westfälischen Gesetzgebers, dadurch bekomme die Qualität einer Leistung im Rahmen einer kommunalen Ausschreibung wieder ein höheres Gewicht, trifft den Punkt. Das ist im Grunde das, was Sie beschrieben haben.

Richtig.

Aber wie Sie ja auch sagten, ist das doch auch im EU-Bereich gar nicht so ungewöhnlich. Möglich wäre es längst.

Das Problem ist, dass die Vergabekultur bei den Auftraggebern nicht stimmt. Die haben die eigentlich relativ progressive Wertung, die in den EU-Richtlinien (und in der Folge auch im GWB) gemacht wurde, wegen falscher Mindsetprämissen oft nicht nachvollzogen.

Folglich wurde der eigentlich durchaus deutliche Wink der europäischen Vergaberechtsreform in weiten Teilen ignoriert. Das erklärt wiederum, dass jetzt Nordrhein-Westfalen – aus meiner Sicht nachvollziehbarerweise – das Bedürfnis hat, irgendwie nachzulegen.

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Zum Schweizer Modell kursiert in Deutschland und vielleicht nicht nur hier eine Idee, was das ist, nämlich die Streichung des günstigsten Angebots in einer Wertungsreihenfolge, um dann das zweitbeste Angebot zu bezuschlagen. Gibt es das oder gab’s das mal oder woher kommt diese Idee?

Das ist das sogenannte Tessiner Modell, wo man bei der klassischen Variante das günstigste und das teuerste Angebot wegstreicht. Eine neuere Variante dieses Ansatzes ist, dass der Medianwert der Angebotspreise bestimmt wird und die Anbietenden Punkte erhalten, die am nächsten bei diesem Medianwert sind.

Das ist ein Modell, dessen Zulässigkeit aus beschaffungsrechtlicher Sicht umstritten ist. Ich würde in der Debatte sauber darauf achten, dass man dieses Thema nicht verwechselt mit dem, was ich als Schweizer Lösung I und Schweizer Lösung II bezeichnet habe.

Beziehen sich die beiden Schweizer Modelle auch auf Vergaben unterhalb des Schwellenwertes?

Das ist für das Schweizer Verständnis sowieso klar: Das neue Recht ist ganz explizit so gemacht, dass in den Anwendungsbereich des neuen Bundesgesetzes über das öffentliche Beschaffungswesen unterschwellig im Wesentlichen das Gleiche gilt wie überschwellig und lediglich einige Ausnahmen gemacht werden. Aber im Prinzip ist der neue Ansatz, dass man ein Gesetz hat für alle Vergaben.

Zwar stellt sich die Frage, ob in jedem unterschwelligen Verfahren Zuschlagskriterien definiert werden. Aber in jedem Fall ist die Philosophie, dass es nicht nur auf den Einkaufspreis ankommt, und dass nach schweizerischem Recht die Nachhaltigkeit Gesetzesziel ist (Art. 2 BöB). Das gilt auch für Kantone und Gemeinden (Art. 2 IVöB)

Gibt es bereits Indikatoren oder Messungen hinsichtlich der Qualität der Leistungen? Haben sich die Modelle in der Schweiz bewährt?

Man kann schon sagen, dass die Qualitätsgewichtung aufgrund der Vergaberechtsreform steigt.

Das ist ein spannender Punkt. Ich glaube, man kann schon sagen, dass die Qualitätsgewichtung aufgrund der Vergaberechtsreform steigt. Sie steigt nicht so, wie sich die Bauwirtschaft das vorstellt. Und sie steigt natürlich unterschiedlich in Bezug auf die Planerleistungen im Vergleich zu den eigentlichen Baumeisterarbeiten. So oder anders ist der sogenannte „Vergabemonitor“ von bauenschweiz ein wichtiges Politikinstrument wegen des Benchmarkeffekts. What gets measured gets managed.

Das ist auch das Ziel der Vergabestatistik in Deutschland.

Genau. Und die ganzen eForms-Geschichten, oder? Die kann man auch gut zur politischen Steuerung verwenden und das versuchen wir in der Schweiz im Ergebnis auch. Big data and public procurement is the next big thing. Und das scheinen die zuständigen Stellen in Nordrhein-Westfalen sehr genau verstanden zu haben. Die sind da absolut in der Avantgarde. Darum freut es mich sehr, dass Sie das jetzt auch aufgreifen. Das ist die Zukunft. Davon bin ich absolut überzeugt.

Vielen Dank für das Gespräch, Herr Steiner!