
Am Tag nach der Bundestagswahl versuchen wir eine erste Einordnung der wahrscheinlichsten Koalitionsoption, die das vorläufige Ergebnis zulässt.
Erst am späten Abend hat sich die realistische Koalitionsoption aus CDU, CSU und SPD herausgestellt. Freie Demokraten und das Bündnis Sahra Wagenknecht gehören dem nächsten Bundestag nicht an, Bündnis 90/Die Grünen könnten weder CDU/CSU noch SPD zu einer Mehrheit verhelfen.
Wie würde sich diese Koalition vergaberechtlich und hinsichtlich der öffentlichen Beschaffung aufstellen? Wir werfen einen Blick in die Wahlprogramme:
Union: Mittelstand und Schwellenwerte
CDU und CSU wollen „gerade Mittelständlern das Leben bei Vergaben einfacher machen“. Die Schwesterparteien möchten dafür die europäische Definition von kleinen und mittleren Unternehmen anpassen.
Ähnliches plant die EU-Kommission bereits, die laut ihrem kürzlich erschienenen Competitiveness Compass als neue Unternehmensklasse kleine Mittelstandsunternehmen (Small Mid-Caps) einführen möchte. Sie wären größer als KMU, aber kleiner als Großunternehmen. Wie weit sich das mit den Vorstellungen von CDU und CSU deckt, lässt sich gegenwärtig nicht einschätzen.
Mit dem im Wahlprogramm formulierten Ziel, die Schwellenwerte für öffentliche Aufträge heraufzusetzen, könnte eine bayerische Forderung ihren Weg in das Wahlprogramm gefunden haben, die erstmals im Dezember 2022 in den Bundesrat eingebracht wurde. Allerdings können die Schwellenwerte weder auf nationaler noch auf europäischer Ebene einseitig geändert werden, ohne gegen das Government Procurement Agreement (GPA) zu verstoßen.
Weitere Forderungen von CDU und CSU betreffen die einheitliche Verankerung der IT-Beschaffung in einem neu zu schaffenden Bundesdigitalministerium (SPD: „Wir werden alle Zuständigkeiten der Verwaltungsdigitalisierung in einem Ministerium bündeln“) sowie den zweifellos bedeutenden Bereich der Beschaffung im Bereich Verteidigung und Sicherheit.
SPD: Bundestariftreue, zweiter Versuch
Das wesentliche vergaberechtliche Vorhaben der Sozialdemokraten ist ihr Evergreen, die in der letzten Wahlperiode gescheiterte Bundestariftreue: Mit ihr wolle man dafür sorgen, dass „öffentliche Aufträge des Bundes nur an Unternehmen gehen, die ihre Beschäftigten nach Tarif bezahlen“. Dieser Grundsatz müsse auch für europäische öffentliche Aufträge gelten, gefordert wird daher auch ein europäisches Tariftreuegesetz.
Weitere Forderungen betreffen die Beschaffung von klimafreundlichen Lkw und Nahverkehrsbussen sowie auch hier Rüstung und Verteidigung.
Einschätzung: Keine schwerwiegenden Widersprüche
Abgesehen von dem offenkundigen Widerspruch zwischen der Mittelstandsfreundlichkeit der Union und dem Wiedergänger Tariftreue seitens der Sozialdemokraten sollten sich diese wenigen konkreten Vorhaben recht unkompliziert verknüpfen lassen.
Allerdings wird sich die SPD eine Zustimmung zur Koalition im Verhältnis zu ihrer Größe üppig bezahlen lassen, schon allein um die innerparteiliche Zustimmung herstellen zu können. Daher erscheint es nicht unwahrscheinlich, dass die Tariftreue erneut ihren Weg in einen Koalitionsvertrag findet. Sie ist unbedeutend genug, um für die Unionsparteien als Verhandlungsmasse hinnehmbar zu sein und kann auf SPD-Seite als Erfolg verbucht werden.
Nicht auszuschließen ist zudem, dass ein Koalitionsvertrag am Ende auch im Bereich Vergabe und Beschaffung mehr Punkte vorweist, als allein die Wahlprogramme nahelegen. So findet das Trendthema der Erhöhung der Wertgrenzen in ihnen keinerlei Berücksichtigung.
Und die AfD?
Die andere mögliche, wenn auch nicht realistische Mehrheit im neu gewählten Bundestag bestünde aus den Stimmen von CDU, CSU und AfD. Friedrich Merz hat jegliche Zusammenarbeit rigoros ausgeschlossen. Gleichwohl dürften in beiden Lagern Sirenengesänge erklingen, welche die scheinbar so naheliegende konservative Mehrheit anpreisen – zumal, wenn sich die SPD als eher schwieriger Partner herausstellen sollte.
Die vergaberelevanten Punkte im Wahlprogramm der Alternative für Deutschland sind jedoch noch schneller zusammengefasst als bei Union und SPD. Sie beschränken sich auf den Spiegelstrich „Vereinfachung des Vergaberechts“ ohne weitere Unterfütterung.
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Titelbild: Albrecht Fietz – Pixabay | Bearbeitung: cosinex