Erklärungsirrtum oder unbeachtlicher Kalkulationsirrtum? Warum diese Unterscheidung auch im Vergaberecht wichtig ist, erläutert Rechtsanwalt Norbert Dippel anhand eines Urteils zum Schadensersatz wegen unzulässigen Ausschlusses eines Angebotes.
Da beißt die Maus keinen Faden ab: Die Verrechtlichung der Vergabeverfahren schreitet immer weiter voran. Wie differenziert die Abgabe einer irrtümlich falschen Preisangabe mit Blick auf die Anfechtbarkeit eines Angebotes juristisch bewertet werden muss, zeigt ein kürzlich ergangenes Urteil des OLG Stuttgart (vom 16.05.2024, 2 U 146 / 22).
Für öffentliche Auftraggeber kann eine falsche Entscheidung weitreichende Folgen haben, da ‑ wie im vorliegenden Fall ‑ teils erhebliche Schadensersatzansprüche des zu Unrecht ausgeschlossenen Bieters begründet werden können.
I. Der Sachverhalt
Ein öffentlicher Auftraggeber schrieb die Vergabe eines VOB-Auftrags national aus. Die spätere Klägerin reichte das preislich günstigste Angebot ein, mit dem sie rund 2 % bzw. 8 % unter dem Preis der anderen Angebote lag.
Im Rahmen der Angebotswertung fiel auf, dass einige der Einheitspreise für Stahlprodukte der Klägerin im Vergleich zu den Mitbewerbern sehr günstig seien. Hierauf erklärte die Klägerin, in den fraglichen Positionen sei ihr ein kalkulatorischer Fehler unterlaufen. Infolge der Kalkulation mit vorgefertigten Kalkulationsbausteinen hätte sie versehentlich einen Kilopreis anstatt eines Tonnenpreises angeboten. Da das Angebot in seiner Gesamtheit auskömmlich sei, stehe sie aber zu den abgegebenen Preisen.
Der Autor
Norbert Dippel ist Syndikus der cosinex sowie Rechtsanwalt für Vergaberecht und öffentliches Wirtschaftsrecht. Der Autor und Mitherausgeber diverser vergaberechtlicher Kommentare und Publikationen war viele Jahre als Leiter Recht und Vergabe sowie Prokurist eines Bundesunternehmens tätig.
Kurz darauf schloss der öffentliche Auftraggeber die Klägerin vom Vergabeverfahren aus, da deren Angebot nicht die geforderten Preise enthalten habe. Außerdem sei ihr Angebot wegen eines Kalkulationsirrtums anfechtbar. Noch am selben Tag rügte die Klägerin den Ausschluss als vergaberechtswidrig. Die Beklagte erteilte den Zuschlag an einen anderen Bieter.
Daraufhin klagte die Klägerin auf Schadensersatz wegen des ihr entgangenen Gewinns in Höhe von 3 % der Angebotssumme. Nachdem in erster Instanz das Landgericht dem Schadensersatzanspruch entsprochen hat, wendet sich der öffentliche Auftraggeber nunmehr mit einer Berufung an das Oberlandesgericht.
Er führt insbesondere an, dass nicht lediglich ein unbeachtlicher Kalkulationsirrtum vorgelegen habe. Die Klägerin hätte ihr Angebot anfechten können. Die nachträgliche Erklärung, sich gleichwohl an den Preis halten zu wollen, falle unter das Nachverhandlungsverbot und sei daher unbeachtlich. Der Auftraggeber sei nicht verpflichtet, den Bieter an fehlkalkulierten Angebotspreisen festzuhalten.
II. Die Entscheidung
Auch das Oberlandesgericht folgt der Argumentation des öffentlichen Auftraggebers nicht.
Die zulässige Berufung sei unbegründet. Das Landgericht habe zu Recht angenommen, dass der Klägerin dem Grunde nach ein Schadensersatzanspruch gegen den öffentlichen Auftraggeber wegen schuldhafter Verletzung einer vorvertraglichen Pflicht zusteht.
Durch die Teilnahme der Klägerin an der Ausschreibung des öffentlichen Auftraggebers sei zwischen den Parteien ein vorvertragliches Schuldverhältnis begründet worden. Aus einem solchen könne sich ein Schadensersatzanspruch ergeben, wenn der öffentliche Auftraggeber im weiteren Verlauf des Ausschreibungs- und Vergabeverfahrens die Vorschriften des öffentlichen Vergaberechts zum Nachteil eines Bieters nicht einhält.
Die Bieter könnten die Beachtung aller für das Verfahren und die Zuschlagserteilung maßgeblichen Vorschriften erwarten. Werde der Auftrag an einen anderen Bieter unter Verletzung der Rücksichtnahmepflichten erteilt, stehe dem übergangenen Bieter ein auf das positive Interesse gerichteter Schadensersatzanspruch unter Kausalitätsgesichtspunkten zu, wenn ihm bei ordnungsgemäßem Verlauf des Vergabeverfahrens der Auftrag hätte erteilt werden müssen. Der Anspruch setze mithin voraus, dass
- das Vergabeverfahren an einem Vergabefehler leidet,
- der Zuschlag einem Dritten tatsächlich erteilt worden ist und
- der Schadensersatz begehrende Bieter den Zuschlag hätte erhalten müssen.
Da die die beiden letztgenannten Voraussetzungen unzweifelhaft gegeben sind, wird nachfolgend lediglich der vermeintliche Vergabefehler erläutert.
1. Kein Ausschlussgrund „Erklärungsirrtum“
Das Angebot der Klägerin sei schon nicht wegen eines Irrtums anfechtbar gewesen (§ 119 BGB). Eine Anfechtung sei hiernach möglich, wenn der Erklärende die Willenserklärung bei Kenntnis der Sachlage und bei verständiger Würdigung des Falles nicht abgegeben haben würde. Hiervon abzugrenzen sei der nicht anfechtbare Kalkulationsirrtum. Dieser liege vor, wenn der Irrtum im Stadium der Willensbildung unterlaufen ist. Er berechtige grundsätzlich nicht zur Anfechtung. Denn derjenige, der aufgrund einer für richtig gehaltenen, in Wirklichkeit aber unzutreffenden Berechnungsgrundlage einen bestimmten Preis oder eine Vergütungsforderung ermittelt und seinem Angebot zugrunde legt, trägt auch das Risiko dafür, dass seine Kalkulation zutrifft.
Im vorliegenden Fall habe sich der Fehler eingeschlichen, weil das von der Klägerin verwendete Kalkulationsprogramm neben anderen zutreffenden Faktoren (allgemeine Geschäftskosten, Gemeinkosten, Wagnis, Gewinn) mit einer falschen Einstellung für die Materialkosten genutzt wurde. Der Irrtum sei somit bereits im Vorfeld des Angebots entstanden, nämlich bei der Kalkulation der Einheitspreise. Als Irrtum im Beweggrund (Motiv) sei er unbeachtlich, denn die Klägerin trage das Risiko für die Richtigkeit der Kalkulation des Einzelpreises. Dies unterscheide den vorliegenden Fall von anderen Konstellationen, bei denen der Irrtum bei der Abgabe der Erklärung selbst geschehen sei (unter Hinweis auf: OLG Karlsruhe, Beschluss vom 11. Januar 2011 – 15 Verg 11).
2. Kein Ausschlussgrund „fehlende Preise“
Selbst bei unterstellter Anfechtbarkeit des Angebots lägen die Voraussetzungen für einen Ausschluss wegen fehlender Angabe der geforderten Preise nicht vor. Als fehlende Preisangabe im Sinne von § 13 Absatz 1 Nr. 3 VOB/A sei eine Auslassung oder eine Angabe mit unbestimmtem Bedeutungsgehalt zu bewerten oder wenn die Preisangaben offensichtlich unzutreffend sind.
Dies sei vorliegend jedoch nicht der Fall gewesen, denn die Klägerin habe die von ihr angegebenen Einzelpreise tatsächlich verlangt. Allein der Umstand, dass das Gebot anfechtbar sein soll, führe nicht zu einer fehlenden Bestimmtheit der Einzelpreise, denn der Bieter könne sein Gebot nur im Gesamten anfechten.
3. Kein Ausschlussgrund „Nachverhandlung“
Ein Ausschluss wäre auch nicht unter dem Gesichtspunkt gerechtfertigt, dass die Klägerin durch den konkludent erklärten Verzicht auf ihr Anfechtungsrecht im Sinne von § 15 Absatz 3 VOB/A unzulässigerweise über eine Änderung der Angebote oder Preise verhandelt. Die Klägerin hat ihr Angebot nicht verändert. Sie kam vielmehr lediglich dem Verlangen nach Aufklärung über das Angebot (§ 15 Absatz 1 Nr. 1 VOB/A) nach, indem sie die bereits angebotenen Preise bestätigte.
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III. Hinweise für die Praxis
Wie gezeigt, kann es bei falschen Preisangaben auf die Unterscheidung von Erklärungsirrtum und Kalkulationsirrtum ankommen:
- Bei einem Erklärungsirrtum fallen bereits bei der Erklärungshandlung Wille und Erklärung auseinander, etwa weil der Erklärende sich versprochen oder verschrieben hat.
- Bei einem Kalkulationsirrtum unterläuft der Irrtum nicht bei der Erklärungshandlung, sondern vorher. Beispielsweise, weil er – wie im vorliegenden Fall – bei der Angebotsvorbereitung mit falschen Mengenangaben gerechnet hat.
Wer sich für diese Unterscheidung näher interessiert, dem sei neben der Langfassung dieses Urteils auch das Lesen des Beschlusses OLG Karlsruhe, Beschluss vom 11.11.2011, 15 Verg 11 / 11 empfohlen. Auch dort wurde aufgrund einer Softwareeinstellung in dem Kalkulationspreis der Kilopreis statt des Tonnenpreises eingetragen. Allerdings ging der Vergabesenat Karlsruhe davon aus, dass das Angebot zwingend auszuschließen sei, weil infolge eines anfechtbaren Erklärungsirrtums der Preis angeblich noch nicht endgültig feststand. Der Verzicht auf das Anfechtungsrecht wurde von dem Vergabesenat als unzulässige nachträgliche Änderung des Angebotes angesehen und konnte den Ausschluss deshalb nicht verhindern.
Das von mir in Teilen wiedergegebene Urteil des OLG Stuttgart grenzt sich explizit von dem Beschluss des OLG Karlsruhe ab. Denn das OLG Karlsruhe geht davon aus, dass der Irrtum bei der Abgabe der Erklärung selbst geschehen sei. Demgegenüber geht das OLG Stuttgart davon aus, dass der Irrtum im Vorfeld der Angebotsabgabe unterlaufen sei.
Vor dem Hintergrund dieser filigranen Unterscheidung ist jeder Vergabepraktiker gut beraten, in diesen Fällen Unterstützung, etwa durch das Rechtsamt, ins Boot zu holen.
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