Wann ist eine Bieterfrage zugleich eine Rüge? Norbert Dippel erklärt anhand eines Beschlusses der VK Bund, wie die Vergabestelle Klarheit herbeiführen kann.
Die Gesetzeslage ist klar: Der Gesetzgeber möchte, dass Bieter und die Vergabestelle mit „offenem Visier“ im Wettstreit um den öffentlichen Auftrag agieren. Dazu gehört auch, dass der Bieter vermeintliche Fehler unverzüglich rügt, um so der Vergabestelle die Möglichkeit zu bieten, die entsprechenden Regelungen zu überdenken. Hilft die Vergabestelle daraufhin der Rüge ab, wird das Verfahren entsprechend korrigiert. Weist sie die Rüge zurück, hat der Bieter 15 Kalendertage Zeit, um einen Nachprüfungsantrag zu stellen oder sich mit den entsprechenden Regelungen abzufinden.
In der Praxis kommt es häufig vor, dass Bieter den Weg einer formalen Rüge scheuen. Sie befürchten, dass eine Rüge bei dem öffentlichen Auftraggeber zu negativen oder den Bieter ablehnenden Reaktionen führt. Diese können sich dann gegebenenfalls negativ bei Ermessensentscheidungen oder im Rahmen von Verhandlungen auswirken.
Der Autor
Norbert Dippel ist Syndikus der cosinex sowie Rechtsanwalt für Vergaberecht und öffentliches Wirtschaftsrecht. Der Autor und Mitherausgeber diverser vergaberechtlicher Kommentare und Publikationen war viele Jahre als Leiter Recht und Vergabe sowie Prokurist eines Bundesunternehmens tätig.
Eine vermeintlich „bauernschlaue Lösung“ wird manchmal darin gesehen, sehr fundierte Bieterfragen zu stellen, die die darin eigentlich enthaltene Rüge verschleiern sollen. Vermeintlich positioniert man sich damit rechtlich, ohne den formalen Akt einer Rüge zu ergreifen.
Wie die Vergabestelle mit einer derartigen Situation umgehen soll und welche gravierenden Folgen die Verschleierungstaktik für den Bieter haben kann, hat die Vergabekammer des Bundes in einem kürzlich ergangenen Beschluss (vom 02.05.2024, VK 2 – 35 / 24) dargelegt.
I. Der Sachverhalt
Die Vergabestelle schrieb eine Rahmenvereinbarung zur Lieferung von Kontroll- und Streifenbooten (KoSB) sowie Tochterbooten EU-weit aus.
Laut Vergabeunterlagen betrug die zu liefernde Höchstmenge sechs KoSB und sieben Tochterboote; die verpflichtende Mindestabnahmemenge betrug zwei KoSB und zwei Tochterboote. Darüber hinaus sollte für den Auftragnehmer kein Anspruch auf Abrufe aus der Rahmenvereinbarung bestehen.
Die Rahmenvereinbarung sollte eine Laufzeit von vier Jahren haben. Die Festbestellmenge sollte spätestens innerhalb von 18 Monaten nach Zugang der Bestellung geliefert werden. Für die optionalen Menge wurden ebenfalls verbindliche Lieferfristen vorgesehen. Die Preise waren laut Vertragsbedingungen Festpreise. Nach zwei Jahren sollte eine Preisanpassungsklausel greifen.
Noch vor Angebotsabgabe stellte die spätere Antragstellerin Anfang Dezember unter anderem Bieterfragen, die die Festpreise betrafen und fragte, ob die Festpreisregelung angepasst beziehungsweise die Schlussrechnung aufgesplittet werden könne. Dabei führte sie unter anderem aus:
„(…) Dies begründet für die Bieter ein unzumutbares Kalkulationswagnis (…) Schon für die Festbestellmenge lassen sich die Kosten über die Bauzeit nur schwerlich kalkulieren und seriöse Angebote müssen erhebliche Risikozuschläge einkalkulieren. Es sollten zumindest Preisgleitklauseln für Material und für Löhne aufgenommen werden. Schlechthin nicht kalkulierbar sind aber die Kosten für die optionale Menge und also für die weiteren vier Boote nebst Tochterbooten. (…) Wird die Festpreisregelung entsprechend angepasst?“
Die entsprechenden Ansinnen wurden von der Vergabestelle umgehend abgelehnt. Daraufhin gab die Antragstellerin Ende Dezember ein Angebot ab.
Nachdem die Vergabestelle der späteren Antragstellerin im März mitgeteilt hat, dass sie beabsichtige, das Angebot der späteren Beigeladenen zu bezuschlagen, stellte diese einen Nachprüfungsantrag.
II. Der Beschluss
Die Vergabekammer des Bundes hält den Nachprüfungsantrag hinsichtlich des gerügten unzumutbaren Kalkulationswagnisses für unzulässig.
1. Vorab zum Rechtsrahmen
Für den vorliegenden Fall sind die Bestimmungen des § 160 Abs. 3 GWB von zentraler Bedeutung. Demnach ist ein Nachprüfungsantrag unzulässig, soweit
- der Antragsteller den geltend gemachten Verstoß gegen Vergabevorschriften vor Einreichen des Nachprüfungsantrags erkannt und gegenüber dem Auftraggeber nicht innerhalb einer Frist von zehn Kalendertagen gerügt hat; der Ablauf der Frist nach § 134 Absatz 2 bleibt unberührt,
- Verstöße gegen Vergabevorschriften, die aufgrund der Bekanntmachung erkennbar sind, nicht spätestens bis zum Ablauf der in der Bekanntmachung benannten Frist zur Bewerbung oder zur Angebotsabgabe gegenüber dem Auftraggeber gerügt werden,
- Verstöße gegen Vergabevorschriften, die erst in den Vergabeunterlagen erkennbar sind, nicht spätestens bis zum Ablauf der Frist zur Bewerbung oder zur Angebotsabgabe gegenüber dem Auftraggeber gerügt werden,
- mehr als 15 Kalendertage nach Eingang der Mitteilung des Auftraggebers, einer Rüge nicht abhelfen zu wollen, vergangen sind.
2. Vorliegen einer Rüge
Nach Ansicht der Vergabestelle belege der Inhalt der Bieterfragen, dass der im Nachprüfungsverfahren beanstandete Sachverhalt sowohl in tatsächlicher als auch in laienhafter rechtlicher Hinsicht schon damals erkannt worden sei. Die Antragstellerin habe in ihren Bieterfragen auf den von ihr für möglich erachteten Rechtsverstoß „unzumutbares Kalkulationswagnis“ hingewiesen. Sie habe ausgeführt, dass sich schon für die Festbestellmenge die Kosten über die Bauzeit „nur schwerlich kalkulieren“ ließen. Die optionale Menge sei „schlechthin nicht kalkulierbar“. Die Einhaltung der Lieferfristen wurde als „nicht mehr möglich“ angesehen, „da die Konstruktionsvorlaufzeit nicht ausreicht“.
Aus den Ausführungen in den Bieterfragen gehe hervor, dass die Antragstellerin nicht nur in tatsächlicher, sondern auch in der für eine Rüge ausreichenden laienhaften vergaberechtlichen Betrachtungsweise erkannt habe, dass das von ihr befürchtete unzumutbare Kalkulationswagnis, mithin ein ihrer Ansicht nach gegebener Verstoß gegen den vergaberechtlichen Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, gegeben ist. Zum anderen gehe aus den Fragen der Antragstellerin unmissverständlich hervor, dass sie die Vergabestelle konkret zur Änderung der Vergabeunterlagen veranlassen wollte und insofern Abhilfe in Form der Abänderung der Vorgaben begehrte. Damit habe die Antragstellerin den bemängelten Aspekt des unzumutbaren Kalkulationswagnisses in ihren Bieterfragen gerügt.
3. Abgrenzung einer Bieterfrage von einer Rüge
Als Ausgangspunkt der Überlegungen stellt die Vergabekammer klar, dass grundsätzlich zwischen Bieterfragen und Rügen zu differenzieren sei. Eine reine Bieterfrage stelle gemeinhin keine Rüge dar.
Eine Rügenotwendigkeit werde im Regelfall erst ausgelöst durch die Antwort des Auftraggebers auf die Frage. Abzustellen sei jedoch stets auf die konkreten Umstände des Einzelfalls. Hier hätten keine typischen Bieterfragen vorgelegen, etwa eine Verständnisfrage dahingehend, wie eine bestimmte, vom Auftraggeber gesetzte Vorgabe zu verstehen ist. Aus den Fragen ergebe sich im Gegenteil, dass die Antragstellerin die Vorgaben der Rahmenvereinbarung vollständig verstanden habe. Insoweit hätte es keine Unklarheiten gegeben. Die Antragstellerin habe diese Vorgaben aber inhaltlich nicht akzeptiert und auf die ihres Erachtens damit verbundenen Probleme hingewiesen. Sie habe ganz konkret eine Abänderung verlangt. Damit sei im vorliegenden Fall eine Rüge in Gestalt von Bieterfragen gegeben.
Im konkreten Fall seien diese Bieterfragen bei der Vergabestelle auch als solche angekommen. Dass die Antragstellerin die Bieterfragen dabei nicht ausdrücklich als „Rüge“ bezeichnet hat, sei dafür unschädlich; an die Form einer Rüge seien – ihrem Zweck entsprechend – keine allzu großen förmlichen Anforderungen zu stellen. Hierfür komme es vielmehr darauf an, dass der Auftraggeber aus dem Vorbringen des Bieters erkennen kann, dass es sich beziehungsweise um welchen Rechtsverstoß es sich handelt und unmissverständlich die Beseitigung dieses behaupteten Rechtsverstoßes geltend gemacht wird. Dies sei der Fall gewesen.
4. Die Konsequenz
Die Bieterfragen wurden als Rüge gewertet. Damit hätte der Nachprüfungsantrag zwingend 15 Kalendertage nach der Nichtabhilfeerklärung seitens der Vergabestelle gestellt werden müssen. Diese Frist wurde nicht eingehalten, weshalb der Nachprüfungsantrag in diesem Punkt unzulässig war.
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III. Hinweise für die Praxis
Frei nach Wilhelm Busch könnte man formulieren: Und die Moral von der Geschicht, Taktieren bei Bieterfragen lohnt sich nicht.
Der vorstehende Beschluss zeigt sehr deutlich, dass es für das Vorliegen einer Rüge nur darauf ankommt, dass der Bieter bezogen auf einen konkreten Sachverhalt zu der zumindest laienhaften Bewertung kommt, dass dies nicht vergaberechtskonform ist und er eine Abhilfe begehrt.
Ob dieses Ansinnen in eine Frage gekleidet wird, das Wort „Rüge“ vermieden wird oder andere Verrenkungen gemacht werden, ist dabei unerheblich. Wird die Rüge zurückgewiesen, läuft die 15-Tagesfrist zum Stellen eines Nachprüfungsantrages. Juristisch gesehen handelt es sich hierbei um eine sogenannte Notfrist. Dies bedeutet, dass die Frist nicht verlängert werden kann.
Wird im Nachhinein festgestellt, dass es sich bei der Bieterfrage tatsächlich um eine Rüge handelt, kann dies – wie im vorliegenden Fall – zur Unzulässigkeit des späteren Nachprüfungsantrages führen.
Auch die Vergabestelle kann in diesen Fällen einen Beitrag zur Klarheit leisten. Erhält sie eine Rüge im Gewand einer Bieterfrage, bietet sich zur Klarstellung folgende Formulierung bei der Beantwortung an: „Vielen Dank für Ihre Bieterfragen vom …, die wir als Rüge bewerten (…)“. Dann herrscht Klarheit in dem Verfahren.
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