Die Textform wird in den verschiedenen Vergaberegimen an unterschiedlichen Stellen vorgeschrieben.

Norbert Dippel legt anhand eines Beschlusses der VK Rheinland dar, welche Grundsätze beim Beurteilungsspielraum gelten, den der Auftraggeber bei der Ermittlung des Auftragswertes hat.

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Noch bevor ein Vergabeverfahren beginnt, ist der relevante Auftragswert der Baumaßnahme zu schätzen. Abhängig davon, ob der EU-Schwellenwert überschritten wird, findet das sogenannte EU-Vergaberecht mit seinen speziellen Regelungen (insbes.: GWB, VOB/A EU oder VgV) Anwendung, oder der Auftrag kann national vergeben werden. Findet das konkrete Vorhaben zeitlich oder räumlich zusammen mit anderen Baumaßnahmen statt, stellt sich die Frage, was der eigentliche Auftrag ist, der der Schätzung zu Grunde liegt. Ist es die Einzelmaßnahme oder der Gesamtvorgang?

Die VK Rheinland hat in einem kürzlich ergangenen Beschluss (vom 08.05.2024, VK 12 / 24 – B) hierzu Stellung genommen und die wesentlichen Grundsätze erläutert.

I. Der Sachverhalt

Der Auftraggeber schrieb die Betonsanierung der Fassade an einem Universitätsgebäude national in Form einer öffentlichen Ausschreibung aus. Insgesamt wurden zwei Angebotsrunden durchgeführt, da ein Vergabeverfahren aufgehoben wurde.

Nach der zweiten Angebotsöffnung kam es zum Streit über angebliche Vergabefehler, woraufhin ein Unternehmen einen Nachprüfungsantrag stellte. Dabei berief sich der Antragsteller darauf, dass der Auftrag eigentlich EU-weit hätte vergeben werden müssen.

Zur Begründung verwies er darauf, dass der Durchschnitt der eingereichten Angebote bei 5.655.423,96 EUR gelegen habe und somit über dem oben genannten EU-Schwellenwert in Höhe von 5.383.000 EUR liege.

Zum anderen sei die vorliegend betroffene Bauleistung „Sanierung der Fassade“ nur ein Teil einer insgesamt zu betrachtenden Baumaßnahme, nämlich des auf mehrere Jahre angelegten Gesamtprojekts „Modernisierung Universität“. Deshalb sei der Wert der Gesamtmaßnahme entscheidend.

Der Autor

Norbert Dippel ist Syndikus der cosinex sowie Rechtsanwalt für Vergaberecht und öffentliches Wirtschaftsrecht. Der Autor und Mitherausgeber diverser vergaberechtlicher Kommentare und Publikationen war viele Jahre als Leiter Recht und Vergabe sowie Prokurist eines Bundesunternehmens tätig.

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II. Der Beschluss

Die Vergabekammer hält den Nachprüfungsantrag für unzulässig und weist ihn deshalb zurück.

Zwingende Zulässigkeitsvoraussetzung für einen Nachprüfungsantrag sei, dass das prognostizierte Auftragsvolumen des betreffenden Vergabeverfahrens den relevanten EU-Schwellenwert überschreitet, was vorliegend nicht der Fall sei.

1. Grundsätze zur Schätzung

Nach § 3 Abs. 1 S. 1 VgV sei bei der Schätzung des Auftragswerts vom voraussichtlichen Gesamtwert der vorgesehenen Leistung ohne Umsatzsteuer auszugehen. Dabei komme dem Auftraggeber bei der Ermittlung des Auftragswertes ein Beurteilungsspielraum zu, welcher der Kontrolle der Nachprüfungsorgane nur eingeschränkt zugänglich sei. Allerdings seien die folgenden von der Vergabekammer hervorgehobenen Grundsätze zu beachten:

  • „Die Kostenschätzung des Auftraggebers muss auf ordnungsgemäß und sorgfältig ermittelten Grundlagen beruhen.
  • Es müssen Methoden gewählt werden, die ein wirklichkeitsnahes Schätzergebnis ernsthaft erwarten lassen.
  • Die Gegenstände der Schätzung und der ausgeschriebenen Maßnahme müssen deckungsgleich sein und die der Schätzung zu Grunde gelegten Preise oder Bemessungsfaktoren müssen bzgl. des Zeitpunkts der Bekanntmachung des Vergabeverfahrens aktuell sein.
  • Die Schätzung muss erkennen lassen, dass sich der Auftraggeber mit Sorgfalt ernsthaft um eine objektive Prognose bemüht und alle wesentlichen Erkenntnisquellen dazu herangezogen hat.

Vorliegend habe der Auftraggeber seine Schätzung des Auftragswertes im Vorfeld der Ausschreibung auf ein Leistungsverzeichnis gestützt, das von einem auf Betonsanierung spezialisierten Fachingenieur erstellt und anhand der aktuellen Marktpreise bepreist wurde. Die Gegenstände der Schätzung und der ausgeschriebenen Maßnahme seien somit deckungsgleich, die eingesetzten Preise aktuell.

2. Angebotswerte als Indiz

Ein Indiz dafür, dass der Wert tatsächlich unter dem Schwellenwert liegt, ergebe sich aus den Netto-Angebotssummen, welche die Bieter benannt haben. Diese hätten bei der „1. Angebotsrunde“ (= Angebote vor Rückversetzung des Verfahrens) bis auf einen Extrem-Ausreißer alle unter dem Schwellenwert gelegen. Auch bei der „2. Angebotsrunde“ hätten vier von sechs Angeboten unter dem Schwellenwert gelegen.

3. Funktionelle Betrachtungsweise ausschlaggebend

Die Vergabekammer folgt nicht der Argumentation des Antragstellers, dass der in Rede stehende Auftrag lediglich ein Teillos der Gesamtvergabe „Sanierung der Universität“ sei, so dass hinsichtlich der Schätzung des Auftragswertes die Gesamtkosten der Sanierung sämtlicher Gebäude der Uni hätten herangezogen werden müssen.

Gemäß § 3 Abs. 1 S. 1 VgV sei bei der Schätzung des Auftragswertes vom voraussichtlichen Gesamtwert der vorgesehenen Leistung ohne Umsatzsteuer auszugehen. Maßgeblicher Grundsatz für die schätzweise Gesamtermittlung sei eine funktionelle Betrachtungsweise. Der EuGH habe in diversen Entscheidungen darauf abgestellt, dass im Hinblick auf die Schätzung eines Auftragswerts eine Aufteilung nicht gerechtfertigt ist, wenn die aufgeteilte Leistung im Hinblick auf ihre technische und wirtschaftliche Funktion einen einheitlichen Charakter aufweist. Daher seien – bevor eine Aufteilung erfolgen darf – organisatorische, inhaltliche, wirtschaftliche und technische Zusammenhänge zu berücksichtigen. Danach bemesse sich, ob Teilaufträge untereinander auf solch eine Weise verbunden sind, dass sie als ein einheitlicher Auftrag anzusehen sind.

Ein solcher Zusammenhang aufgrund einer funktionellen Betrachtungsweise liege zum Beispiel vor, wenn Baumaßnahmen ohne jeweils andere Bauabschnitte keine sinnvolle Funktion erfüllen könnten, so dass eine Aufteilung nicht durch objektive Gründe gerechtfertigt werden kann.

Maßgeblich für die Frage, ob ein wirtschaftlicher und/oder technisch-funktioneller Zusammenhang bestehe, sei, ob die Beschaffung eines Teils ohne den anderen einen Sinn macht. So bestünde ein solcher Zusammenhang zum Beispiel nicht, wenn spätere Ausbauarbeiten erst in Planung sind oder ihre künftige Ausführung ungewiss ist. Auch bei komplexen Bauvorhaben, die in verschiedenen Phasen realisiert werden, handele es sich dann nicht um ein Gesamtbauwerk, wenn die unterschiedlichen baulichen Anlagen ohne Beeinträchtigung ihrer Vollständigkeit und Benutzbarkeit auch getrennt voneinander errichtet werden können.

Vorliegend sei die Fassadensanierung des Gebäudeteils keine Maßnahme, die in einem wirtschaftlich oder technisch-funktionellen Zusammenhang mit den weiteren Sanierungsmaßnahmen steht. Die Fassadensanierung sei für sich alleine eine abgeschlossene Maßnahme, die von weiteren Sanierungsmaßnahmen klar trennbar sei und auch ohne die weiteren Sanierungsmaßnahmen ihren Zweck erfülle.

Es sei nicht ersichtlich, dass der Sanierung der Uni ein Gesamtplan zugrunde liege, von dem die Fassadensanierung des Gebäudes nur ein Teilauftrag sei. Des Weiteren zeige schon der lange Zeitraum der Sanierungsarbeiten – von 2011 bis 2024, an anderer Stelle wird sogar von einer Sanierung „noch bis in die 2030-er Jahre“ gesprochen –, dass es sich hier nicht um einen Gesamtauftrag handeln kann.

III. Hinweise für die Praxis

Auch mit Blick auf die Schätzung des Auftragswertes zeigt sich, dass die Tücke im Detail liegen kann. Der oben beschriebene funktionelle Zusammenhang ist zu prüfen und das entsprechende Ergebnis ist zu dokumentieren. Dann gilt:

Hinsichtlich der Schätzung eines Auftragswerts ist eine Aufteilung nicht gerechtfertigt, wenn die aufgeteilte Leistung im Hinblick auf ihre technische und wirtschaftliche Funktion einen einheitlichen Charakter aufweist. Ein solcher Zusammenhang liegt zum Beispiel vor, wenn Baumaßnahmen ohne jeweils andere Bauabschnitte keine sinnvolle Funktion erfüllen können. Er besteht jedoch beispielsweise nicht, wenn spätere Ausbauarbeiten erst in Planung sind oder ihre künftige Ausführung ungewiss ist.

Auch bei komplexen Bauvorhaben, die in verschiedenen Phasen realisiert werden, handelt es sich dann nicht um ein Gesamtbauwerk, wenn die unterschiedlichen baulichen Anlagen ohne Beeinträchtigung ihrer Vollständigkeit und Benutzbarkeit auch getrennt voneinander errichtet werden können.

Titelbild: BCFC – shutterstock.com