Norbert Dippel erläutert anhand einer Entscheidung der VK Bund, wie eine Generalunternehmervergabe rechtssicher begründet werden kann.
Für den Vergabepraktiker mag es wie eine Szene aus dem Film „Und täglich grüßt das Murmeltier“ anmuten: Der Fachdienst steht vor der Tür und führt wortreich aus, dass aus technischen oder wirtschaftlichen Gründen eine Generalunternehmervergabe durchgeführt werden muss. Selbstverständlich ist er der Ansicht, dass das gesamte Projekt kippt, wenn der Gesamtauftrag getrennt nach Fach- und Teillosen vergeben würde. Fraglich ist, ob die vorgetragenen Gründe einer vergaberechtlichen Prüfung standhalten.
Die Vergabekammer des Bundes hat hierzu in einer jüngeren Entscheidung (Beschluss vom 29.02.2024, VK 2 – 17 / 24) Stellung bezogen. Die Ausführungen machen klar, dass es ganz entscheidend darauf ankommt, ob die konkrete Situation von dem regelmäßig vorliegenden Normalfall abweicht. Denn nur diese besonderen Gründe vermögen eine Ausnahme zu rechtfertigen.
I. Der Sachverhalt
Die Auftraggeberin schrieb verschiedene Bauarbeiten an einer Autobahn inklusive Leistungen zur Verkehrsführung und Markierungsarbeiten an dieser Baustelle EU-weit aus.
Bei dem betroffenen Autobahnabschnitt wurde eine deutliche Überlastung festgestellt, weswegen der Ausbau vordringlich im Bundesverkehrswegeplan berücksichtigt wurde.
Der Autor
Norbert Dippel ist Syndikus der cosinex sowie Rechtsanwalt für Vergaberecht und öffentliches Wirtschaftsrecht. Der Autor und Mitherausgeber diverser vergaberechtlicher Kommentare und Publikationen war viele Jahre als Leiter Recht und Vergabe sowie Prokurist eines Bundesunternehmens tätig.
Auf die Vergabe in Fachlose (Verkehrssicherung, Markierung, passive Schutzeinrichtungen) verzichtete die Auftraggeberin, um Synergieeffekte zu erzielen und die Bauzeit so gering wie möglich zu halten. Laut Vergabevermerk wurden als wesentliche Gründe für die Gesamtvergabe aufgeführt:
- Verkürzung der Bauzeit bei Anwendung des Verfügbarkeitskostenmodells,
- Partizipation der Fachlos-Auftragnehmer an einer möglichen Beschleunigungsvergütung des Generalunternehmers,
- höhere Wirtschaftlichkeit in der Beschaffung,
- deutliche Verringerung von Sicherheitsrisiken,
- Vermeidung von Kompatibilitätsproblemen und
- zu erwartender erheblicher volkswirtschaftlicher Nutzen einer Bauzeitverkürzung.
Die Auftraggeberin hat in dem Vermerk die geschätzten Bauzeiten bei den Modellen Gesamtvergabe/Verfügbarkeitskosten (Variante 3), Fachlosvergabe/Verfügbarkeitskosten (Variante 2) und Fachlosvergabe (Variante 1) gegenübergestellt. Dabei kam sie zu dem Ergebnis, dass die von ihr präferierte Variante 3 die Bauzeit um 21 Tage (gegenüber Variante 2) beziehungsweise 38 Tage (gegenüber Variante 1) verkürzen könnte. Diese Einschätzung ist zwischen den Parteien streitig.
Das Verfügbarkeitsmodell sieht vor, dass die Auftraggeberin dem zukünftigen Auftragnehmer die Beanspruchung der Fahrbahn zwecks Erledigung der Bauarbeiten gegen die Entrichtung von Verfügbarkeitskosten zur Verfügung stellt. Die Auftraggeberin gibt lediglich einen zeitlichen Rahmen vor, innerhalb dessen die Bauarbeiten fertiggestellt werden sollen. Die tatsächlich erforderliche Bauzeit ist Gegenstand der Angebote der Bieter und wird – im Falle der Auftragserteilung – mit konkreten Baufristen vertraglich vereinbart.
Kann der Auftragnehmer die Bauarbeiten früher abschließen als im Angebot vorgesehen, erhält er im Rahmen der Schlussrechnung einen Bonus, der umso höher ausfällt, je kürzer die tatsächliche Bauzeit im Vergleich zur angebotenen Bauzeit ist.
Zuschlagskriterium ist ein fiktiver Wertungspreis. Dieser wird ermittelt aus der Wertungssumme des Angebots zuzüglich der der angebotenen Anzahl an Werktagen entsprechenden zu wertenden Verfügbarkeitskosten. Der angebotenen Bauzeit kommt damit eine besonders gewichtige Rolle zu.
Eine Bieterin wandte sich insbesondere dagegen, dass die Leistungen der Verkehrssicherung nicht losweise ausgeschrieben wurden. Sie stellte nach erfolgloser Rüge einen Nachprüfungsantrag.
II. Der Beschluss
Die Vergabekammer des Bundes hält den zulässigen Nachprüfungsantrag für unbegründet, weil die Auftraggeberin berechtigt war, ausnahmsweise von einer Losaufteilung abzusehen.
1. Der Grundsatz der Losaufteilung
§ 97 Abs. 4 S. 2 GWB normiert den Grundsatz der Losaufteilung. Dieser Grundsatz sei vorliegend zwar einschlägig, denn bei der Teilleistung „Verkehrssicherung“ handele es sich unstreitig um einen eigenständigen fachlichen Markt. Daher seien nach § 97 Abs. 4 S. 2 GWB grundsätzlich Fachlose zu bilden.
2. Die Ausnahme vom Gebot der Losaufteilung
Allerdings bestünde der Grundsatz nicht ausnahmslos. § 97 Abs. 4 S. 3 GWB erlaube die Gesamtvergabe, wenn wirtschaftliche oder technische Gründe es erforderten. Dies habe die Auftraggeberin vorliegend beanstandungsfrei angenommen und sich dabei auf die vier folgenden Aspekte gestützt:
a. Gefahr für Leib und Leben
Insbesondere erhöhte Unfallgefahren im Baustellenbereich, volkswirtschaftliche Nachteile infolge von Zeitverlust durch Staugeschehen und ökologische Nachteile durch vermehrte staubedingte Emissionen seien insgesamt geeignet, eine Ausnahme vom Grundsatz der Fachlosvergabe zu begründen. Hinzu komme, dass bei den notwenigen Sperrungen der Verkehr durch Städte geleitet werden müsse, was mit erhöhten Belastungen an Lärm und Abgas für die Bevölkerung verbunden sei. Deshalb müsse der Streckenabschnitt so schnell wie möglich wieder einschränkungslos verfügbar gemacht werden.
Explizit führt die Vergabekammer aus, dass verwaltungsinterne Eigeninteressen nicht als Begründung für den Verzicht auf Fachlose angeführt werden. Das gilt insbesondere für einen nicht anfallenden Koordinierungsaufwand, der im Fall einer Gesamtvergabe beim Generalunternehmer und nicht beim öffentlichen Auftraggeber liegt..
b. Extrem zugespitzte Verkehrssituation
Zunächst stellt die Vergabekammer fest, dass Autobahnbaustellen sehr häufig zu Verkehrsstaus führen und unfallträchtige Bereiche darstellen. Wollte man diese seitens der Auftraggeberin angeführten Gründe pauschal als Argument für eine Gesamtvergabe gelten lassen, könnte sie sich stets auf technische und wirtschaftliche Gründe für eine Gesamtvergabe berufen: Das Fachlosgebot liefe ins Leere.
Vorliegend sei aus Sicht der Vergabekammer nicht nur ein allgemeines, sondern ein streckenabschnittbedingt spezifisches Beschleunigungsinteresse mit Bezug zum konkreten Vorhaben gegeben. Die Auftraggeberin berufe sich nämlich nicht pauschal auf die in Rede stehenden Aspekte, sondern sie stelle auf die ganz konkrete Baustelle und deren Besonderheiten ab. Die Überlastung der Strecke sei mit konkreten Zahlen nachgewiesen, weshalb die Bundesregierung ein überragendes öffentliches Interesse an dem vorliegenden Projekt festgestellt habe.
Aufgrund der besonders hohen Frequentierung des Bauabschnitts sei das hinter dem besonderen Beschleunigungsinteresse stehende Ziel einer schnellstmöglichen Beendigung der Baumaßnahme für dieses konkrete Vorhaben legitim.
c. Beschleunigung
Der Verzicht auf die Fachlosvergabe sei auch geeignet, eine schnellere Abwicklung des Bauvorhabens zu gewährleisten. Die Beschleunigung werde mit dem „Verfügbarkeitskostenmodell“ angestrebt. Die Bauzeit werde in den Wettbewerb gestellt, indem die Bauunternehmen auf Bieterseite die von ihnen für erforderlich gehaltene exakte Bauzeit individuell berechnen müssten. Je kürzer die angebotene Bauzeit, desto geringer sei der (fiktive) Wertungspreis. Die individuell angebotene Bauzeit werde Vertragsinhalt.
Dieser Ansatz würde bei einer losweise getrennten Vergabe nicht funktionieren, da dann die Verkehrssicherungsleistungen in Abhängigkeit zu den übrigen Gewerken zeitlich gestaffelt vergeben werden müssten.
Das Verfügbarkeitsmodell setze aber voraus, dass die verschiedenen Gewerke auf der Baustelle ineinandergreifen. Der Bauunternehmer benötige die Möglichkeit zu flexiblem Handeln und zu flexibler Absprache mit den anderen Gewerken. Diese Möglichkeit ist wahrscheinlicher, wenn das Bauunternehmen selbst Vertragspartner der Fachgewerke ist und die verschiedenen Unternehmen vor Ort auf der Baustelle flexiblere Absprachen treffen können als wenn die Auftraggeberin als Vertragspartnerin der Fachgewerke zwischengeschaltet ist.
d. Erforderlichkeit/ Verhältnismäßigkeit
Aus Sicht der Vergabekammer sei der Verzicht auf Fachlose „erforderlich“ i.S.v. § 97 Abs. 4 S. 3 GWB. Die Erforderlichkeit sei nicht erst dann gegeben, wenn ein Losverzicht vollkommen alternativlos wäre. Vielmehr sei die Erforderlichkeit als eine konkrete Ausprägung des allgemeinen Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes zu verstehen.
Dabei verkennt die Vergabekammer nicht, dass der Verzicht auf die Fachlosvergabe schwerwiegende Konsequenzen für das Unternehmen habe: Sie seien von einer eigenständigen Teilnahme am Vergabewettbewerb weitgehend ausgeschlossen und könnten vornehmlich als Nachunternehmen an dem Auftrag partizipieren. Letztlich würde auch dieser Auftrag über den Generalunternehmer auf dem Markt für Verkehrssicherungsleistungen vergeben. Der Generalunternehmer sei aber kein öffentlicher Auftraggeber, weshalb er frei in seiner Entscheidung sei, welches Nachunternehmen er für die Verkehrssicherung einbinden will.
Vorliegend sei zu berücksichtigen, dass von der Auftraggeberin ca. 90 % aller Bauprojekte konventionell, also losweise ausgeschrieben und beauftragt würden. Laut Auftraggeberin würde der besondere Beschleunigungsansatz nur bei Aufträgen mit besonderen Belastungen gewählt, wo eine schnelle Abwicklung besonders wichtig sei. Eine verhältnismäßige Anwendung des Ausnahmetatbestands von § 97 Abs. 4 S. 3 GWB sei in einer Gesamtschau über alle Vergabeverfahren hinweg damit gewährleistet.
Aber auch, wenn man das vorliegende Vergabeverfahren isoliert und für sich genommen betrachte, sei die Gesamtvergabe nicht unverhältnismäßig. Das vorliegende Projekt unterliege – wie bereits ausgeführt – zulässigerweise einer besonderen Priorisierung mit der Folge eines besonderen und spezifischen Beschleunigungsbedürfnisses. Genau hier liege der Unterschied zu anderen Projekten, bei denen lediglich ein allgemeines und stets gegebenes Beschleunigungsinteresse bestand.
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III. Hinweise zur Praxis
Die Vergabekammer des Bundes hat in dem vorstehenden Beschluss einen wichtigen Grundsatz klar benannt: die regelmäßig bei jeder losweisen Vergabe auftretenden Schwierigkeiten (beispielsweise Schnittstellenproblematik, zeitliche Verzögerung durch gestaffelte Ausschreibung, Abstimmungserfordernisse auf der Baustelle) vermögen einen Verstoß gegen das Gebot der losweisen Vergabe nicht zu rechtfertigen.
Diese allgemeinen Gesichtspunkte hat der Gesetzgeber sehenden Auges bei dem Gebot der losweisen Vergabe gemäß § 97 Abs. 4 GWB „eingepreist“. Aus Gründen der Mittelstandsförderung werden öffentlichen Auftraggebern diese regelmäßigen Belastungen auferlegt.
Nur, wenn darüberhinausgehende und belegbare Belastungen zu erwarten sind, vermögen sie eine Ausnahme zu rechtfertigen. Genau hier kommt der Fachdienst ins Spiel: Er muss im konkreten Fall die Begründung dafür liefern, dass eine derartige außerordentliche Belastung besteht. Vorliegend hat der Vergabevermerk die erforderlichen Begründungen enthalten und sogar stichfeste Belege für die Annahme des Ausnahmefalles benannt. Dementsprechend konnte die Vergabekammer den Ausnahmefall als rechtmäßig ansehen.
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Eine Anmerkung zur Entscheidung:
Dieses Vergabeverfahren wurde aufgrund der problematischen Gesamtvergabe und Begründung des Ausnahmetatbestands mit zahlreichen Rügen und Nachprüfungsverfahren angegriffen. Die VK Bund hat binnen weniger Tage gleich vier Entscheidungen veröffentlicht,- interessanterweise mit praktisch wortgleicher Entscheidungsbegründung. Gegen mindestens zwei davon laufen Beschwerdeverfahren vor dem OLG Düsseldorf.
Insofern erscheint mir vorläufig noch Zurückhaltung in der Frage angezeigt, ob das gewählte Verfügbarkeitskostenmodell und „überragende“ öffentliche (Beschleunigungs-) Interessen als Begründung letztlich tragen können. Bei der heutzutage dauerhaft hohen Belastung unserer Verkehrswege – vielerorts bereits langjähriger Überlastung – sowie einem seiner Natur nach zeitkritischen Autobahnbau, könnte sich das Regel-Ausnahme-Verhältnis faktisch umkehren. Das gesetzliche Gebot der Losvergabe wäre unter dieser Begründung möglicherweise auf Jahre ausgesetzt. Es wird spannend, wie sich das OLG Düsseldorf hierzu positioniert.
Sehr geehrter Herr Freiheit,
vielen Dank, dass Sie die Entscheidung aus Ihrer Sicht in den Gesamtzusammenhang einordnen. Für unsere Leser sind derartige Hinweise wertvoll.
Selbstverständlich werden wir über den Fortgang in der Sache berichten.
Mit freundlichen Grüßen
Norbert Dippel