Eingangsbereich des Europäischen Gerichtshofes

Der Europäische Gerichtshof (EuGH) betont in einem aktuellen Urteil einmal mehr die Verantwortung des öffentlichen Auftraggebers für die Durchführung von Vergabeverfahren.

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Für ein vertieftes Verständnis des EU-Vergaberechts kann sich der sprichwörtliche „Blick über den Tellerrand“ lohnen. Auch wenn die Rechtsprechung des EuGH die Umsetzung des europäischen Vergaberechts im jeweiligen Mitgliedstaat betrifft, lassen sich aus den Entscheidungen allgemeine Rückschlüsse für die Rechtslage in Deutschland ziehen.

Denn der Prüfungsmaßstab für die EU-Konformität ist das primäre und sekundäre Gemeinschaftsrecht, insbesondere die EU-Vergaberichtlinien.

Der Autor

Norbert Dippel ist Syndikus der cosinex sowie Rechtsanwalt für Vergaberecht und öffentliches Wirtschaftsrecht. Der Autor und Mitherausgeber diverser vergaberechtlicher Kommentare und Publikationen war viele Jahre als Leiter Recht und Vergabe sowie Prokurist eines Bundesunternehmens tätig.

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In einer kürzlich ergangenen Entscheidung hat sich der EuGH mit der Regelung fakultativer Ausschlussgründe im portugiesischen Vergaberecht befasst (Urteil vom 21.12.2023, C – 66 / 22), die auch interessante Rückschlüsse auf die Rechtslage in Deutschland zulässt.

Insbesondere hat der EuGH die interessante Frage aufgeworfen, ob auch die Begründung des Auftraggebers, einen Bieter nicht vom Vergabeverfahren auszuschließen, den übrigen Bietern mitgeteilt werden muss.

I. Der Sachverhalt

Der sehr komplexe Sachverhalt wird nachfolgend stark vereinfacht wiedergegeben.

Ein Unternehmen wurde von der portugiesischen Wettbewerbsbehörde wegen eines Verstoßes gegen Wettbewerbsrecht in verschiedenen vorangegangenen Vergabeverfahren mit einer Geldbuße belegt. Als gravierende Folge darf sich dieses Unternehmen aufgrund von Regelungen des portugiesischen Rechts bis zu einer Rehabilitierung nicht mehr an Vergabeverfahren als Bieter beteiligen. Diese zwingende Rechtsfolge greift bei allen verwaltungsrechtlichen Sanktionen, die wegen schwerwiegendem beruflichen Fehlverhalten verhängt worden sind.

Gleichwohl nahm dieses Unternehmen an einem Vergabeverfahren teil und wurde sogar als Zuschlagskandidat ausgewählt. Gegen die beabsichtigte Zuschlagserteilung ging ein Konkurrent gerichtlich vor.

Letztlich wurden dem EuGH Fragen nach der Europarechtskonformität der portugiesischen Regelung vorgelegt.

II. Das Urteil

Der EuGH hält die vorstehend skizzierte Regelung für europarechtswidrig und führt dabei unter anderem aus:

1. Bindung an die Ausschlussentscheidung der Wettbewerbsbehörde

Zunächst widmet er sich der Frage, ob es gegen EU-Recht verstößt, wenn einzig eine nationale Wettbewerbsbehörde die gesetzliche Befugnis hat, über den Ausschluss von Bietern wegen des Verstoßes gegen Wettbewerbsregeln zu entscheiden.

Gemessen wurde diese nationale Regelung an Art. 57 Abs. 4 Unterabs. 1 Buchst. d der Vergaberichtlinie 2014/24:

„(4) Öffentliche Auftraggeber können in einer der folgenden Situationen einen Wirtschaftsteilnehmer von der Teilnahme an einem Vergabeverfahren ausschließen oder dazu von den Mitgliedstaaten verpflichtet werden:

d) der öffentliche Auftraggeber verfügt über hinreichend plausible Anhaltspunkte dafür, dass der Wirtschaftsteilnehmer mit anderen Wirtschaftsteilnehmern Vereinbarungen getroffen hat, die auf eine Verzerrung des Wettbewerbs abzielen;“

Nach Ansicht des EuGH betreffe dieser fakultative Ausschlussgrund eine wesentliche Komponente der Beziehung zwischen dem Zuschlagsempfänger und dem öffentlichen Auftraggeber. Letztlich beruhe das Vertrauen des Auftraggebers in den Bieter auf dessen Zuverlässigkeit.

Die Beurteilung, ob ein Ausschlussgrund vorliegt, sei dem öffentlichen Auftraggeber übertragen. Unter besonderer Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes müsse der Auftraggeber eine konkrete und auf den Einzelfall bezogene Beurteilung der Verhaltensweise des betreffenden Wirtschaftsteilnehmers auf der Grundlage aller relevanten Umstände vornehmen.

Vorliegend müsse sich der öffentliche Auftraggeber auf die Ermittlungen und die Entscheidung der Wettbewerbsbehörde stützen. Allerdings verfüge der öffentliche Auftraggeber aufgrund der oben zitierten Regelung über ein Ermessen, das er auch ausüben müsse. Er dürfe sich nicht an die Schlussfolgerung der Behörde binden, sondern müsse eine eigene Entscheidung treffen.

Letztlich stehe die zitierte Norm einer nationalen Regelung entgegen, wonach allein nationale Wettbewerbsbehörden darüber entscheiden dürfen, ob ein Wirtschaftsteilnehmer wegen eines Verstoßes von Wettbewerbsregeln von Vergabeverfahren ausgeschlossen wird.

2. Zum Begründungserfordernis

Als Ausgangspunkt seiner Überlegungen stellt der EuGH fest, dass Mitgliedstaaten dem „allgemeinen unionsrechtlichen Grundsatz einer guten Verwaltung“ nachkommen müssen, wenn sie Unionsrecht durchführen.

Von diesen Anforderungen komme der Pflicht zur Begründung der von den nationalen Behörden erlassenen Entscheidungen besondere Bedeutung zu, da sie es den Adressaten dieser Entscheidungen ermöglicht, ihre Rechte geltend zu machen. Die Begründung sei Voraussetzung dafür, dass sie in Kenntnis aller Umstände entscheiden könnten, ob sie mit einer Klage gegen die Entscheidungen vorgehen wollen.

Daraus folge, dass der öffentliche Auftraggeber im Rahmen der Verfahren zur Vergabe öffentlicher Aufträge dieser Begründungspflicht unterliegt. Sie betreffe insbesondere Entscheidungen über den Ausschluss eines Bieters auf der Grundlage eines fakultativen Ausschlussgrundes. Die jeweilige Begründung des Ausschlusses müsse dem ausgeschlossenen Unternehmen auch mitgeteilt werden, damit dieses wiederum mit Rechtsmitteln gegen den Ausschluss vorgehen könne.

Dann widmet sich der EuGH der Frage, ob auch die Entscheidung, ein Unternehmen nicht auszuschließen, obwohl ein Ausschlussgrund zutrifft, begründet werden muss. Diese Ausführungen zitieren wir wörtlich:

„Außerdem ist darauf hinzuweisen, dass der öffentliche Auftraggeber seine Entscheidung auch dann begründen muss, wenn er feststellt, dass auf einen Bieter einer der in Art. 57 Abs. 4 dieser Richtlinie genannten Fälle* (Anmerkung: Katalog der fakultativen Ausschlussgründe, umgesetzt in § 124 GWB) *zutrifft, aber gleichwohl beschließt, ihn nicht auszuschließen, z. B. aus dem Grund, dass der Ausschluss eine unverhältnismäßige Maßnahme wäre. Eine Entscheidung, von einem Ausschluss abzusehen, obwohl ein fakultativer Ausschlussgrund anwendbar scheint, berührt nämlich die Rechtsstellung aller übrigen an dem Verfahren zur Vergabe des fraglichen öffentlichen Auftrags teilnehmenden Wirtschaftsteilnehmer, die daher ihre Rechte geltend machen können müssen und auf der Grundlage der in dieser Entscheidung enthaltenen Gründe gegebenenfalls entscheiden können müssen, mit einer Klage gegen die Entscheidung vorzugehen. Die Begründung für die Entscheidung, von einem Ausschluss abzusehen, kann insoweit in die abschließende Entscheidung über die Vergabe des Auftrags an den ausgewählten Bieter aufgenommen werden.“

Von Praktikern, für Praktiker: Die cosinex Akademie

III. Hinweise für die Praxis

Das Urteil des EuGH betont einmal mehr die Verantwortung des öffentlichen Auftraggebers für die Durchführung des Vergabeverfahrens. Gemäß dem Grundsatz der Letztverantwortlichkeit muss er sämtliche inhaltlichen Entscheidungen in dem Vergabeverfahren in eigener Verantwortung treffen. Explizit ist es ihm verwehrt, Ausschlussentscheidungen anderer Behörden einfach zu übernehmen.

Ausschlussentscheidungen werden bei dem öffentlichen Auftraggeber oftmals im Zusammenspiel zwischen Vergabestelle und Rechtsamt beziehungsweise Justiziariat getroffen. Um der von dem EuGH skizzierten Verantwortung gerecht zu werden, müssen beide Stellen hinreichend vergaberechtlich geschult und personell ausgestattet sein.

Was das Vorgehen des Auftraggebers bei Nicht-Ausschluss anbelangt, ist bei der Interpretation des EuGH-Urteils Zurückhaltung geboten. Selbstverständlich muss die Ermessensentscheidung, einen Bieter nicht auszuschließen, obwohl fakultative Ausschlussgründe verwirklicht sein könnten, sorgfältig dokumentiert werden. Ob und wann diese Entscheidung den übrigen Bietern mitgeteilt werden muss, ist dem Urteil nicht eindeutig zu entnehmen. Aus diesem Grund haben wir die relevante Passage vorstehend wörtlich zitiert.

Zunächst stellt sich die Frage, ab welcher Schwelle eine derartige Mitteilungspflicht greifen würde. Der EuGH hat Formulierungen gebraucht, laut denen ein Ausschlussgrund „zutrifft“ beziehungsweise „anwendbar erscheint“.

Wann dies der Fall ist, kann durchaus schwierig zu beurteilen sein. Bei den fakultativen Ausschlussgründen wird regelmäßig in zweifacher Hinsicht ein Beurteilungs- beziehungsweise Ermessensspielraum eröffnet.

Der erste Beurteilungsspielraum betrifft die Tatbestandsvoraussetzungen des Ausschlussgrundes. Beispielsweise ist bei dem Ausschlussgrund der Schlechtleistung (§ 124 Abs. 1 Nr. 7 GWB) zu prüfen, ob eine „wesentliche Anforderung“ bei früheren Ausführungen nicht erfüllt wurde. Die Wesentlichkeit bestimmt sich dabei auch nach den Vorstellungen des Auftraggebers, was ihm wichtig ist.

Ebenso kommt es bei dem Ausschlussgrund der „schweren Verfehlung“ (§ 124 Abs. 1 Nr. 3 GWB) darauf an, dass die Verfehlung so „schwer“ ist, dass sie das Vertrauen in die Integrität des Unternehmens verletzt. Auch hier verfügt der Auftraggeber über einen Beurteilungsspielraum, der von der Ermessensentscheidung des Ausschlusses zu trennen ist.

Das Feld der möglichen Fälle ist bei der Ermessensentscheidung denkbar weit und reicht von der Annahme, dass ein Ausschluss grob gegen den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz verstoßen würde, bis hin zu der Ermessensreduzierung auf Null.

Vor diesem Hintergrund wird man wohl davon ausgehen können, dass ein Ausschlussgrund „zutrifft“ oder „anwendbar erscheint“, wenn sowohl auf der Tatbestandsebene als auch bei der Rechtsfolge ein Ausschluss im Rahmen eines Abwägungsprozesses ernsthaft in Erwägung gezogen werden kann.

Ob in jedem Fall sämtliche Bieter über die Entscheidung informiert werden müssen, wie teilweise aus dem Urteil herausgelesen wird, ist deshalb fraglich.

Auf der anderen Seite kann die Forderung des EuGH nicht übersehen werden, dass auch die anderen Bieter die Entscheidung des Auftraggebers, ein Unternehmen nicht auszuschließen, gerichtlich überprüfen lassen können müssen. Hieraus kann man folgern, dass sie die Entscheidung mitgeteilt bekommen müssen.

Der späteste Zeitpunkt hierfür wäre das Informationsschreiben gem. § 134 GWB. Wählen Auftraggeber einen derartig späteren Zeitpunkt für die Information, wird gegebenenfalls das Verfahren kurz vor Schluss noch mit einem neuen Aspekt belastet. Würde ein früherer Zeitpunkt gewählt, würden gegebenenfalls die Regelungen zur Rügepräklusion Anwendung finden, wenn der betreffende Bieter nicht gegen den unterbliebenen Ausschluss vorgeht.

Was die mögliche Angreifbarkeit der Entscheidung des öffentlichen Auftraggebers, ein Unternehmen nicht auszuschließen, anbelangt, ist der besondere gerichtliche Prüfmaßstab zu berücksichtigen. Im Nachprüfungsverfahren sind Ermessensentscheidungen nur daraufhin überprüfbar, ob von dem richtigen Sachverhalt ausgegangen wurde, ob bei der Entscheidung die relevanten Gesichtspunkte abgewogen wurden und ob grobe Wertungswidersprüche vorliegen. Vor diesem Hintergrund dürften es nur sehr wenige Fälle sein, wo die Entscheidung des Nichtausschlusses rechtlich so unhaltbar ist, dass sie revidiert werden muss.

Alles in allem bleibt abzuwarten, ob die deutschen Nachprüfungsinstanzen den Gedanken der Informationspflicht bei Nichtausschluss weiter aufgreifen und präzisieren. Es bleibt also spannend – und das ist gut so.

Titelbild: nmann77 – shutterstock.com