Das OLG Frankfurt a.M. hat zu den Voraussetzungen einer ordnungsgemäßen und insbesondere rechtzeitigen Rüge Stellung genommen. Auch die Trennung von Eignungs- und Zuschlagskriterien wird thematisiert.
Kommt es in einem Vergabeverfahren zum Streit zwischen Bieter und Vergabestelle, wird seitens der Bieter nicht selten sprichwörtlich aus allen Rohren gefeuert: Vermeintliche Vergabefehler werden oftmals mit eilig beauftragten Rechtsanwälten nach dem Motto „viel hilft viel“ identifiziert, gerügt und zum Gegenstand eines Nachprüfungsverfahrens gemacht.
Ausgeblendet wird dabei oftmals, dass gerade in Bezug auf Rügen feste Vorgaben bestehen. Für Bieter ist deren Kenntnis wichtig, da sie nur mit einer wirksamen Rüge ihre Rechte in Vergabeverfahren wahren können. Für Vergabestellen kann die Kenntnis über die Anforderungen an eine wirksame Rüge helfen, diejenigen Rügen zu identifizieren, die tatsächlich ernst genommen werden müssen. Denn nach § 160 Abs. 3 GWB ist ein Nachprüfungsantrag unzulässig, wenn der vermeintliche Vergabefehler nicht rechtzeitig gerügt wurde.
Der Autor
Norbert Dippel ist Syndikus der cosinex sowie Rechtsanwalt für Vergaberecht und öffentliches Wirtschaftsrecht. Der Autor und Mitherausgeber diverser vergaberechtlicher Kommentare und Publikationen war viele Jahre als Leiter Recht und Vergabe sowie Prokurist eines Bundesunternehmens tätig.
Der Vergabesenat bei dem OLG Frankfurt a.M. hat in einem kürzlich ergangenen Beschluss (vom 04.12.2023, 11 Verg 5 / 23) umfassend zu den Voraussetzungen einer ordnungsgemäßen und insbesondere rechtzeitigen Rüge Stellung genommen.
I. Der Sachverhalt
Die Auftraggeberin hat Reinigungsleistungen europaweit ausgeschrieben. Als Eignungskriterien waren unter anderem zwei Referenzprojekte aus den letzten drei Jahren anzugeben.
Der Zuschlag sollte auf das wirtschaftlichste Angebot erteilt werden. Neben preislichen Kriterien sollte die Vorlage von Referenzen mit 5 % in die Bewertung eingehen. Erbrachte der Bieter die erforderlichen Referenzen, so erhielt er die volle Punktzahl von 5.
Im weiteren Verlauf wurde die spätere Antragstellerin von der Auftraggeberin mit Vorabinformationsschreiben nach § 134 GWB darüber informiert, dass ein Konkurrent den Auftrag erhalten soll.
Hiergegen wandte sich die Antragstellerin mit ihrer sofortigen Beschwerde, mit der sie die schon bei der Vergabekammer geltend gemachten Rügen weiterverfolgte. Inhaltlich stützte sie sich unter anderem darauf, dass das Angebot des Zuschlagskandidaten einen nicht auskömmlichen Preis aufweise. Dies schloss sie daraus, dass ihr eigenes Angebot bereits sehr knapp kalkuliert gewesen sei und deshalb nicht noch weiter unterschritten werden könne. Auch wandte sie sich gegen die Wertungskriterien, da hier unzulässigerweise Wertungs– und Eignungskriterien vermischt worden seien.
Nachdem die Antragstellerin bei der Vergabekammer unterlag, wandte sie sich mit einer sofortigen Beschwerde an den Vergabesenat bei dem OLG Frankfurt. Dabei stellte sie routinemäßig den Antrag, die aufschiebende Wirkung der sofortigen Beschwerde bis zur Entscheidung über diese gem. § 173 Abs 3 GWB zu verlängern, was abgelehnt wurde.
II. Die Entscheidung
Bei seiner Ablehnung geht der Vergabesenat davon aus, dass die sofortige Beschwerde unbegründet ist, weil schon der Nachprüfungsantrag unzulässig gewesen sei.
1. Zur Unauskömmlichkeit der Konkurrenzangebote
Der Vergabesenat verneint die Antragsbefugnis der Antragstellerin hinsichtlich des Vorwurfs, die bestplatzierten Angebote der Beigeladenen seien offensichtlich unauskömmlich und die Antragsgegnerin habe die gebotene Aufklärung versäumt. Denn die Antragstellerin habe in ihrer Rüge keine hinreichenden Umstände bezeichnet, die die Annahme der Unauskömmlichkeit rechtfertigen.
Zwar sei es grundsätzlich zulässig, sich auf nur vermutete Tatsachen zu stützen. Dabei müsse die Antragstellerin aber Anhaltspunkte vortragen, die diese Vermutung soweit plausibilisierten, dass sie mehr sind als eine nur abstrakte Möglichkeit; der Vortrag dürfe nicht willkürlich „ins Blaue hinein“ erfolgen. Die Antragstellerin müsse objektive Anhaltspunkte vortragen, weshalb sie ihre Behauptung für möglich oder wahrscheinlich halten darf.
Vorliegend habe die Antragstellerin lediglich vorgebracht, ein niedrigerer als der von ihr kalkulierte Stundenverrechnungssatz könne nicht mehr auskömmlich sein. Dabei habe sie aber verkannt, dass nicht der Stundenverrechnungssatz, sondern der Gesamtpreis Wertungskriterium ist. Deshalb könnten gleiche oder auch höhere Stundenverrechnungssätze bei niedriger kalkuliertem Zeitaufwand zu einem niedrigeren Gesamtpreis führen. Was unter Berücksichtigung dieser Abhängigkeiten ihre Behauptung unauskömmlicher Preisbildung durch die Beigeladenen plausibilisieren könnte, habe die Antragstellerin nicht dargelegt.
2. Die Vermischung von Eignungs- und Wertungskriterien
Hinsichtlich der die Vermengung von Eignungs- und Wertungskriterien betreffenden Rüge sei die Antragstellerin jedoch gem. § 160 Abs. 3 Nr. 3 GWB präkludiert; der Nachprüfungsantrag sei daher diesbezüglich unzulässig.
Hinsichtlich der Erkennbarkeit eines vermeintlichen Vergabefehlers sei auf einen durchschnittlichen Bieter abzustellen. Dieser kenne die Grundstrukturen des Vergabeverfahrens und damit auch die grundsätzliche Unterscheidung zwischen Eignungs- und Wertungskriterien. Er wisse, dass es kein Mehr oder Weniger an Eignung im Sinne des § 122 GWB gebe und Eignungs- und Wertungskriterien grundsätzlich zu trennen seien.
Vorliegend hätte die Antragstellerin sich für die Ausarbeitung ihres Angebots mit den Eignungs- und Wertungskriterien befassen und dabei folgendes erkennen müssen:
- Die Referenzen finden sowohl bei der Eignung, als auch bei den Wertungskriterien Berücksichtigung.
- Referenzen sind auch bei den Wertungskriterien als „erforderlich“ bezeichnet. Man erhält bei ihrer Erbringung 5 Punkte.
- Eine abgestufte Wertung ist nach dem Wortlaut nicht vorgesehen.
Schon daraus hätte die Antragstellerin schließen können, dass die Auftraggeberin Eignungs- und Wertungskriterien nicht hinreichend voneinander getrennt habe. Denn selbst wenn sie annähme, dass die Auftraggeberin hier Unterschiedliches prüfen wolle (was sich aus dem Wortlaut der Kriterien nicht ergibt), fehle ihr jeder Anhaltspunkt, was dann Gegenstand der Eignungsprüfung und was Gegenstand der Wertung sein sollte.
Entweder werde im Zuge der Wertung nochmals die Eignung berücksichtigt, oder die (abweichenden) Wertungskriterien ließen sich aus den Vergabeunterlagen nicht erkennen. Durch die Doppelnennung der Referenzen bleibe letztlich auch unklar, ob die Eignung auch ohne Vorlage von geeigneten Referenzen allein aufgrund der Eigenerklärung bejaht werden könne.
Allein diese Erkennbarkeit begründe die Rügeobliegenheit hinsichtlich der Unzulässigkeit der Verwertung der Referenzen bei der Wertung nach § 160 Abs. 3 Nr. 3 GWB und schließe eine zulässige Rüge erst nach Ankündigung des Zuschlags an einen Dritten aus.
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III. Hinweise für die Praxis
Der Vergabesenat knüpft die Rügepflicht an den durchschnittlichen Bieter und dessen laienhafte rechtliche Wertungsmöglichkeiten. Es genügt die Erkenntnis, dass es „so nicht geht“. Die Antragstellerin kann sich der Rügepräklusion nicht dadurch entziehen, dass sie den Rechtsfehler im Nachprüfungsverfahren mit Unterstützung ihres Rechtsanwalts einer klareren juristischen Zuordnung unterzieht.
Im Streitfall genügt daher, dass sie erkennen konnte, dass Eignungs- und Wertungskriterien hinsichtlich der Referenzen nicht getrennt, sondern vermengt worden sind und dass entweder eine Doppelverwertung vorliegt oder nicht erkennbar ist, was in welchem Kontext geprüft werden soll.
Lässt man die Rechtsprechung der letzten Jahre Revue passieren, kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass die Nachprüfungsinstanzen bei den Bewerbern und Bietern zunehmend mehr vergaberechtliche Kenntnisse voraussetzen. Dass ein durchschnittlicher Bieter das Verbot der Vermischung von Eignungs- und Wertungskriterien kennt, wird jedenfalls unterstellt.
Für Bieter, Bewerber und Auftraggeber kann daraus abgeleitet werden: Vergaberechtliche Kenntnisse sind absolute Voraussetzung für die Beteiligung an einem Vergabeverfahren.
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Titelbild: BCFC – shutterstock.com
Offenbar bewegt sich die Rechtsprechung im Vergaberecht zunehmend in einem rechtstheoretisch bzw. dogmatisch und immer weniger in einem pragmatisch geprägten Raum. Gerade in einem Feld, in dem sich öffentliche Verwaltung und Wirtschaft zwangsläufig begegnen müssen, kann man das nur bedauern. Die seinerzeitigen Ängste vor einer „Verrechtlichung des Vergabewesens“ waren wohl nur zu berechtigt!
Sehr geehrter Herr Dippel,
ich teile Ihre Einschätzung voll und ganz, dass mit dem Urteil mehr Klarheit für die Bietenden und die Vergabestellen gegeben ist.
Leider habe ich die Erfahrung als Berater der Vergabestellen gemacht, dass viele Stellen die Abforderung von Referenzen sowohl in der Anzahl als auch in den Inhalten als „gewertet“ Eignungskriterium vorgeben. Dabei wird keine Skalierung in der Bewertung vorgegeben, auch wird nicht auf eine begründete Ausnahme einer Bewertung von Referenzen hingewiesen. Somit ist das Urteil zu begrüßen. Vielleicht kann man für die Vergabestellen nochmals den besonderen Umgang mit Referenzen verdeutlichen. Normalerweise gibt es kein mehr an Eignung durch Referenzen. Geeignet ist geeignet!
Vielen Dank für die Aufarbeitung, Herr Dippel!
Als Vergabestelle freut mich das Urteil natürlich.
Übergreifend wird das Vergaberecht in Deutschland jedoch auch dadurch immer kompliziert – für beide Seiten.
Eine drastische Vereinfachung des Vergaberechts wäre sinnvoll.
Andere Mitgliedsstaaten der EU schaffen das.