Mit einer Experimentierklausel als Ergänzung zur Hamburgischen Vergaberichtlinie erleichtert die Hansestadt die Erprobung neuer Technologien in der Verwaltung. Wir sprachen mit Paulo Kalkhake, Projektleiter der zuständigen Einheit GovTecHH, und Manuel Kilian, Gründer und CEO von GovMind, über das neue Instrument.
Das ist GovTecHH
GovTecHH beschreibt sich selbst als Venture Client-Einheit. Kannst du erklären, was damit gemeint ist, Paulo?
Paulo Kalkhake: Mit dem Projekt GovTecHH bauen wir seit April 2022 Deutschlands erste Public Venture Client Unit auf. Sie ist dafür zuständig, innovative Lösungsanbieter auf der einen Seite und Bedarfe der Fachbereiche der Hamburger Verwaltung auf der anderen Seite zu matchen und mögliche Kooperationen von der Bedarfserkundung bis hin zur Pilot-Initiierung zu begleiten.
Basis hierfür war auch unsere Arbeit als Vorsitzland im IT-Planungsrat, bei der wir eine Initiative zur Stärkung der Zusammenarbeit der Verwaltung mit externen Innovatoren und Start-ups eingebracht hatten. Dazu wurde in einer Arbeitsgruppe u.a. erarbeitet, warum Verwaltung und Start-ups nicht enger zusammenarbeiten. Wir wollten es jedoch nicht bei einem Abschlussbericht belassen, sondern waren uns in Hamburg einig, auch konkrete Maßnahmen umzusetzen.
Hamburg als Beispiel für schnelle Verwaltungsmodernisierung
Manuel, was war deine Reaktion, als du von dieser Initiative aus Hamburg gehört hast?
Manuel Kilian: Ich war davon sofort sehr beeindruckt, und zwar nicht nur, weil das gut zu dem passt, was wir mit GovMind machen. Hamburg überspringt damit sozusagen einige der Evolutionsstufen im Umgang mit Innovationen, die in der Privatwirtschaft durchlaufen wurden.
Denn in der Privatwirtschaft sind viele Akteure vor zehn bis fünfzehn Jahren erst alle ins Silicon Valley gepilgert, dann haben sie versucht, Innovationen innerhalb ihrer Konzerne selbst umzusetzen, danach haben sie versucht zu investieren und inzwischen landen sie bei der kommerziellen Zusammenarbeit mit Start-ups – also genau da, wo auch Hamburg heute steht.
Hamburg ist damit ein Beispiel dafür, dass die öffentliche Verwaltung sehr schnell den Weg finden kann, um zielführend mit Innovatoren zusammenzuarbeiten, und die Umwege, die manche Konzerne genommen haben, nicht eins zu eins nochmal durchlaufen muss.
Und es passt zu GovMind?
Es passt auf jeden Fall auch zu GovMind. Unsere Rechercheplattform MIRA zeigt die europäische Anbieterlandschaft von innovativen Lösungen komfortabel auf und kann damit die Suche, Bewertung und Beschaffung von Innovationen begleiten. Aber auch sie muss man nutzen können und einem Haus zugänglich machen, und das funktioniert, glaube ich, besonders gut, wenn es so eine dezidierte Einheit wie GovTecHH gibt, die sich damit beschäftigt und die das an die richtigen Stellen in der Verwaltung spielen kann. Klar ist aber auch: Nicht jede Verwaltung braucht nun eine Public Venture Client Unit, um erfolgreich Innovationen zu beschaffen.
So arbeitet GovTecHH
Um noch etwas konkreter zu werden: Was kann denn in Hamburg unter diesen Bedingungen jetzt ein Bedarfsträger oder eine Vergabestelle konkret erwarten, wie unterstützt ihr da?
Paulo Kalkhake: Im Gros der Fälle ist unser Ausgangspunkt ein identifizierter Bedarf in einem Fachbereich, den wir in einem Erstgespräch erfassen. Denn nicht alle Themen sind für unseren Prozess geeignet. Anschließend suchen wir im Rahmen einer Markterkundung passende Lösungen, indem wir beispielsweise Unternehmensdatenbanken durchsuchen, erfolgreichen Kooperationen in anderen Verwaltungen identifizieren oder durch Internetrecherche Marktinformationen gewinnen.
Wir erfinden das Rad also nicht neu, sondern unterstützen Fachbereiche in dieser so wichtigen Phase der der Beschaffung. Gerade hier gibt es schon viele kleine Hürden, wie knappe Zeitressourcen, unklare Zuständigkeiten oder fehlende Kenntnisse über verfügbare Marktlösungen, die den avisierten Innovationsprozess stoppen können. Es ist daher nicht verwunderlich, dass oft auf bewährte Wege zurückgegriffen wird, z.B. Rahmenverträge. Unser Ziel ist es hier, den Lösungsraum zu erweitern und die ausgetretenen Pfade zu verlassen.
Was die Experimentierklausel bewirkt
Hintergrund ist ja eine Experimentierklausel, die Anfang des Jahres der Hamburgischen Vergaberichtlinie hinzugefügt wurde, darüber haben wir auch im cosinex Blog berichtet. Ist das aus Sicht eines innovativen Anbieters ein geeignetes Instrument, Manuel?
Manuel Kilian: Da kann ich an das anknüpfen, was Paulo Kalkhake gerade schilderte, nämlich die ausgetretenen Pfade: Ich glaube, Bürokratie und Verwaltung wählen aus guten Gründen oft den Weg des geringsten Widerstandes. Dieser bedeutet oftmals, traditionelle, bereits bekannte Lösungen zu beschaffen.
Die Experimentierklausel ermöglicht nun, dass der neue Weg – also der einer innovativen Lösung – gewissermaßen ebenso attraktiv und einfach zu gehen ist, wie der ausgetretene Pfad. So werden die Wettbewerbsbedingungen zwischen traditionellen und innovativen Lösungen gewissermaßen nivelliert und es wird ermöglicht, was ja ein Prinzip der öffentlichen Verwaltung ist: im Sinne der Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit die beste Lösung zu nutzen.
Eine innovative Lösung kann sich also genauso einfach durchsetzen wie eine traditionelle Lösung, wenn es die beste Lösung ist. Das ist für mich die Essenz der Experimentierklausel und das ist ein ganz wichtiges Signal in die Verwaltung hinein, aber natürlich auch an den großen Markt von innovativen Anbietern in Europa.
„Don’t blame the Vergaberecht“
Im Grunde ist die Experimentierklausel ja eine weitere Vereinfachung des Vergaberechts. Ist das Vergaberecht das Problem?
Paulo Kalkhake: Don’t blame the Vergaberecht, denn es stellt Transparenz und Wettbewerb sicher. Wenn es der einzige Grund wäre, würden Organisationen, die nicht an das Vergaberecht gebunden sind, sehr viel mehr mit Start-ups zusammenarbeiten. Umfragen in der Privatwirtschaft belegen dies jedoch nicht – auch dort gibt es viele Hürden, z.B. risikoaverses Verhalten, mangelnde Erfahrung in der Zusammenarbeit mit Start-ups, oder interne Unternehmensrichtlinien. Das deckt sich mit unseren Erfahrungen in Verwaltung.
Aber das Vergaberecht ist eben auch sehr komplex. Denn Kolleginnen und Kollegen gemeinsam mit den Beschaffungseinheiten die Angst hiervor zu nehmen, ist einer unserer Aufgaben.
Wie waren bisher die Reaktionen aus den Fachbereichen? Wie intensiv müsst ihr für euch werben?
Paulo Kalkhake: Wir haben viele positive Rückmeldungen von Kolleginnen und Kollegen erhalten. Für uns war es wichtig, unser Dienstleistungsportfolio immer wieder in die Organisation zu tragen und uns intern zu vernetzen. Zu Beginn sind wir aktiv auf Fachbereiche zugegangen sind, um mit Ihnen darüber zu sprechen, was sie aktuell beschäftigt. Inzwischen kommen Fachbereiche auch direkt auf uns zu. Auch Veranstaltungen wie unser regelmäßig stattfindendes Format “Verwaltung trifft Start-up“ werden gut angenommen.
Was uns freut: Eine von uns durchgeführte interne Befragung zeigt, dass Fachbereiche durch unsere Aktivitäten Start-up Kooperationen offener gegenüberstehen. Das ist ein tolles Feedback für das gesamte Team.
Und gegenüber den Lösungsanbietern, Manuel? Muss man da erklären, was GovTecHH macht?
Manuel Kilian: Ich glaube nicht, denn der Begriff Venture Client Einheit ist insbesondere im Start-up-Umfeld bekannt. Man versteht schnell, dass GovTecHH eine gute Anlaufstelle ist, wo man auf Leute trifft, die innovative Geschäftsmodelle verstehen.
Was ich besonders wichtig finde, ist die Signalwirkung, die von dem Projekt GovTecHH in Verbindung mit der Experimentierklausel in alle Richtungen ausgeht. Viele Kommentare, die ich in den letzten Tagen dazu gelesen habe, haben hervorgehoben, dass es auf diese Weise möglich ist, in laufenden Beschaffungsvorgängen Innovationen stärker zu berücksichtigen und sich aus dem Tagesgeschäft heraus nachhaltig zu digitalisieren. Das ist eine extrem wichtige Botschaft an den Markt und an alle Vergabestellen in Deutschland.
Nicht jede Kommune braucht eine Venture Client Einheit
Wie gut eignet sich GovTecHH als Vorbild? Wie übertragbar ist das Modell?
Manuel Kilian: Man sollte nicht daraus schließen, dass jetzt jede Kommune selbst so eine Venture Client Einheit aufbauen muss. Für eine große Stadt wie Hamburg macht diese Einheit total Sinn, für kleine Kommunen dürfte es sinnvoller sein, die Dinge, die du mit einem mehrköpfigen Team abbildest, Paulo, auf einer Stelle zu konzentrieren.
Paulo Kalkhake: Es zeigt sich ja in Umfragen, dass Kommunen bereits der größte Kundenkreis von innovativen Anbietern sind – vielleicht auch, weil es weniger komplexe Organisationen mit kürzeren Entscheidungswege sind. Wichtig ist, dass es jemanden gibt, der sich dem Thema annimmt, ganz gleich in welcher Rolle. Und, dass es einfache Wege gibt, Marktwissen zu erlangen, z.B. über den Besuch von Veranstaltungen oder die Nutzung von Datenbanken.
Das ist keine Einbahnstraße. Auch wir als Verwaltung müssen lernen offener über unsere Herausforderungen in das Ökosystem zu kommunizieren. Das ist ein wichtiger Beitrag für mehr Anbietervielfalt. Viele Unternehmen veranstalten beispielsweise Lieferantentage, um regelmäßig im Austausch zu bleiben.
Manuel Kilian: Dafür schaffen wir bei MIRA derzeit auch ein Angebot, indem wir über redaktionelle Inhalte neue innovative Lösungen einordnen und erklären; für all diejenigen, die nicht die Möglichkeiten haben, eine eigene Venture Client Einheit aufzubauen.
Lieber Paulo, lieber Manuel, herzlichen Dank für das Gespräch!
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Portraitfotos: Marie Sophie Bekker, GovMind