Das Oberlandesgericht Düsseldorf hat in einem jüngeren Beschluss den Rahmen zu der Frage abgesteckt, ob die Vorabinformationspflicht gemäß § 134 GWB auch im Unterschwellenbereich gelten kann.
Noch bis vor wenigen Jahren war der Rechtschutz klar zweigeteilt: Im Oberschwellenbereich wurde Bietern aufgrund europarechtlicher Vorgaben das (subjektive) Recht eingeräumt, vermeintliche Vergabefehler, die ihre Chancen auf den Zuschlag beeinträchtigen, im Wege eines Nachprüfungsverfahrens überprüfen zu lassen.
Die grundlegende Vorschrift findet sich in § 97 Abs. 6 GWB:
„Unternehmen haben Anspruch darauf, dass die Bestimmungen über das Vergabeverfahren eingehalten werden.“
Demgegenüber herrschte in dem haushaltsrechtlich geprägten Unterschwellenvergaberecht ‑ vereinfacht formuliert ‑ die Ansicht vor, dass die vergaberechtlichen Regelungen einzig der sparsamen und wirtschaftlichen Verwendung öffentlicher Mittel dienen. Damit konnten Bieter im unterschwelligen Vergaberecht grundsätzlich kaum gegen Vergabefehler vorgehen, da sie sich eben nicht auf bieterschützende Bestimmungen berufen konnte.
Der Autor
Norbert Dippel ist Syndikus der cosinex sowie Rechtsanwalt für Vergaberecht und öffentliches Wirtschaftsrecht. Der Autor und Mitherausgeber diverser vergaberechtlicher Kommentare und Publikationen war viele Jahre als Leiter Recht und Vergabe sowie Prokurist eines Bundesunternehmens tätig.
Diese Zweiteilung wird seit mehreren Jahren zunehmend aufgeweicht. Zivilgerichte befassen sich immer öfter im Rahmen einstweiliger Verfügungen mit Vergabeverfahren im unterschwelligen Bereich. Auch haben einige Bundesländer eigene Nachprüfungsmöglichkeiten im Unterschwellenbereich geschaffen.
Fernab der Dogmatik ist es aus Bietersicht kaum vermittelbar, dass nur im Oberschwellenbereich mit dem Nachprüfungsverfahren ein effektiver Rechtsschutz bestehen soll. Vor diesem Hintergrund ist es nicht verwunderlich, dass sich die Frage nach der analogen Anwendung vergaberechtlicher Regelungen des Oberschwellenbereichs auch für die unterschwelligen Vergaben stellt.
Das Oberlandesgericht Düsseldorf hatte sich (Beschluss vom 21.06.2023, 27 U 4 / 22) mit der Frage zu befassen, ob die Nichtigkeitsfolge wegen der unterlassenen Vorabinformation (§ 134 GWB) analog auch im unterschwelligen Vergaberecht Anwendung finden kann.
I. Der Sachverhalt
Der öffentliche Auftraggeber schrieb einen Rahmenvertrag für rechtsanwaltliche Beratungsleistungen im Bereich des Vergaberechts sowie des gewerblichen Mietrechts öffentlich in zwei Losen gem. UVgO aus.
Nach der Abgabe ihres Angebotes bat die spätere Klägerin den Auftraggeber für den Fall, dass ein anderer Bieter für den Zuschlag vorgesehen sei, um Übersendung eines Vorabinformationsschreibens nach § 134 GWB. Dem kam der Auftraggeber nicht nach. Stattdessen informierte er die spätere Klägerin nach Zuschlagserteilung unter anderem über den Namen des bezuschlagten Unternehmens. Auf Aufforderung der späteren Klägerin übersandte der Beklagte ihr eine Absagemitteilung nach § 46 UVgO. Ihr zufolge sei der Zuschlagsempfänger bei im Wesentlichen gleicher qualitativer Bewertung aufgrund eines günstigeren Preises ausgewählt worden.
Die Klägerin ist der Auffassung, dass die mit ihren Mitbewerbern geschlossenen Verträge nach § 134 BGB nichtig seien, da der Beklagte es versäumt habe, sie über den beabsichtigten Zuschlag vorab zu informieren und ihr Gelegenheit zur Beantragung einer einstweiligen Verfügung zu geben. Ein öffentlicher Auftraggeber sei auch bei Vergaben im Unterschwellenbereich dazu verpflichtet, vor der Vergabe von Aufträgen die Vorabinformations- und Wartepflichten nach § 134 GWB einzuhalten.
Daraufhin reichte sie eine Klage auf Feststellung der Nichtigkeit des geschlossenen Rahmenvertrages ein. Nachdem diese abgewiesen wurde, legte sie Berufung bei dem OLG Düsseldorf ein.
II. Die Entscheidung
Das OLG hält die Berufung zwar für zulässig. In der Sache hat sie aber keinen Erfolg, weil der in Rede stehende Vertrag nicht wegen Verstoßes gegen § 134 GWB nichtig sei. Eine Pflicht des öffentlichen Auftraggebers, unterlegene Bieter bei Vergaben im Unterschwellenbereich vorab über die beabsichtigte Bezuschlagung des Angebots eines Wettbewerbers zu unterrichten, existiere in Nordrhein-Westfalen, ebenso wie im Bund, nicht.
1. § 134 GWB auf Unterschwellenvergaben nicht anwendbar
Gemäß § 106 Abs. 1 GWB gelte der die Vergabe von öffentlichen Aufträgen und Konzessionen betreffende Teil 4 des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen nur für die Vergabe von öffentlichen Aufträgen, deren geschätzter Auftrags- oder Vertragswert ohne Umsatzsteuer die jeweils festgelegten Schwellenwerte erreicht oder überschreitet.
Der hier nach § 106 Abs. 2 Nr. 1 GWB i. V. m. Art. 4 lit. d der Vergaberichtlinie 2014/24/EU einschlägige Schwellenwert bei öffentlichen Dienstleistungsaufträgen betreffend soziale und andere besondere Dienstleistungen im Sinne von Anhang XIV der Richtlinie, zu denen Dienstleistungen im juristischen Bereich gehören, beträgt 750.000 Euro. Er sei vorliegend unstreitig bei weitem nicht erreicht. Damit ist § 134 GWB nicht direkt auf Unterschwellenaufträge anwendbar.
2. Keine entsprechende Anwendung von § 134 GWB
Auch sei für eine entsprechende Anwendung des § 134 GWB im Unterschwellenbereich kein Raum. Dabei könne dahinstehen, ob die Vorschrift als kartellvergaberechtliche Sondervorschrift ohnehin nicht analogiefähig ist. Denn eine Analogie setze eine planwidrige Regelungslücke voraus. Diese wiederum erfordere ein unbeabsichtigtes Abweichen des Gesetzgebers von seinem dem konkreten Gesetzgebungsverfahren zugrunde liegenden Regelungsplan.
Angesichts der Diskussion um die Informations- und Wartepflicht im Unterschwellenbereich bei der Erarbeitung des Entwurfs der Unterschwellenvergabeordnung könne nicht von einer planwidrigen Regelungslücke ausgegangen werden.
3. Keine landesrechtliche Regelung
Ausdrücklich weist das OLG darauf hin, dass die von den Vergabestellen des Landes Nordrhein-Westfalen anzuwendende Unterschwellenvergabeverordnung keine vorgelagerte Informations- und Wartepflicht kennt. Nach § 46 Abs. 1 Satz 1 UVgO unterrichtet der Auftraggeber jeden Bewerber und jeden Bieter unverzüglich über den Abschluss einer Rahmenvereinbarung oder die erfolgte Zuschlagserteilung. Die UVgO sehe also nur eine nachgelagerte Unterrichtung über den bereits erfolgten Abschluss beziehungsweise die Zuschlagserteilung vor.
Von der Möglichkeit, landesgesetzlich eine Verpflichtung zur Mitteilung vor Zuschlagserteilung zu schaffen, habe das Land Nordrhein-Westfalen trotz dieser Diskussion und anders als eine Reihe anderer Länder gerade keinen Gebrauch gemacht.
4. Kein Verstoß gegen Justizgewährleistungsanspruch
Nach Ansicht des OLG erfordere auch der verfassungsrechtlich gebotene allgemeine Justizgewährleistungsanspruch nach Art. 19 Abs. 4 GG nicht die Schaffung einer Vorabinformations- und Wartepflicht als besondere Vorkehrung für die Durchsetzung von Primärrechtsschutz im Unterschwellenbereich.
Es liege im gesetzgeberischen Gestaltungsspielraum, das Interesse des Auftraggebers an einer zügigen Ausführung der Maßnahmen und das Interesse des erfolgreichen Bewerbers an alsbaldiger Rechtssicherheit dem Interesse des erfolglosen Bieters an Primärrechtsschutz vorzuziehen und Letzteren regelmäßig auf Sekundärrechtsschutz zu beschränken.
Der Gesetzgeber sei verfassungsrechtlich nicht dazu verpflichtet, eine auch faktisch realisierbare Möglichkeit eines Primärrechtsschutzes im Vergaberecht in der Gestalt einer Pflicht der vergebenden Stelle zu einer rechtzeitigen Information der erfolglosen Bieter zu schaffen, wie sie für Auftragsvergaben oberhalb der Schwellenwerte besteht (unter Berufung auf: BVerfG, Beschluss vom 13. Juni 2006, 1 BvR 1160/03, NJW 2006, 3701 Rnrn. 71 ff, Rn. 74).
5. Auch kein Gebot des effektiven Rechtsschutzes gemäß EU-Recht
Abschließend prüft das OLG die Frage, ob sich eine Informations- und Wartepflicht im Interesse vollständigen Rechtsschutzes aus dem EU-Gemeinschaftsrecht ergeben könne, wie dies der Senat in einem Orbiter Dictum zu seinem Urteil vom 13. Dezember 2017, I-27 U 25/17 unter Verweis auf eine Entscheidung des Europäischen Gerichts erster Instanz vertreten hat (NZBau 2018, 168 Rn. 17). Diesen Konstellationen lag die Besonderheit zugrunde, dass es sich zwar formal um Unterschwellenvergaben gehandelt hat, ausnahmsweise aber die Binnenmarktrelevanz bejaht wurde, so dass bestimmte Regelungen des EU-Vergaberechts anzuwenden waren.
Vorliegend sei eine Binnenmarktrelevanz nicht gegeben, da ein hierfür erforderliches grenzüberschreitendes Interesse bei Unterschwellenvergaben zu verneinen sei. Hierbei kämen als Kriterien der Auftragswert und der Ausführungsort, aber auch Besonderheiten des betroffenen Marktes in Betracht. Allein die Grenzlage Nordrhein-Westfalens sei nicht ausreichend. Das Auftragsvolumen liege nur bei gut einem Viertel des Schwellenwerts. Zudem setze die nachgefragte Dienstleistung eine Qualifikation gerade im nationalen Recht voraus, weshalb die Binnenmarktrelevanz vom Auftraggeber zurecht verneint wurde.
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III. Hinweise für die Praxis
Die Vorabinformationspflicht gem. § 134 GWB gilt ausschließlich im Oberschwellenbereich. Ausnahmsweise kann es auch bei zu bejahender Binnenmarktrelevanz im Unterschwellenbereich eine entsprechende Informationspflicht geben.
Allerdings muss darauf hingewiesen werden, dass verschiedene Bundesländer entsprechende Regelungen getroffen haben, die eine Vorabinformationspflicht vorsehen, teilweise sogar explizit mit einer vergleichbaren Folge der Unwirksamkeit bei Verstoß. Die vorstehenden Ausführungen des OLG Düsseldorf gelten somit zunächst nur für Bundesaufträge und Bundesländer, die keine abweichende Spezialregelung getroffen haben.
An dieser Stelle sei die Bemerkung erlaubt, dass dieses Beispiel einmal mehr die Widersprüchlichkeit in der Politik aufzeigt: Bei allem Streben nach Entbürokratisierung und Vereinfachung ‑ insbesondere im Bereich des viel gescholtenen Vergaberechts ‑ gibt es schon bei der durchaus wichtigen Frage des Bestehens einer Vorabinformationspflicht mit entsprechender Unwirksamkeitsfolge im Unterschwellenbereich keine einheitliche Rechtslage in Deutschland. Die entsprechenden Regelungen sind selbst für einen Fachmann kaum mehr zu überblicken. Wie soll ein mittelständischer Unternehmer die Rechtslage deutschlandweit beherrschen?
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