Eine unterbliebene Losaufteilung kann auch noch nach Ablauf der Angebotsfrist gerügt werden. Das zeigt ein Beschluss des Bayerischen Obersten Landesgerichts, den wir in diesem Beitrag vorstellen.
Manch ein öffentlicher Auftraggeber sieht den Ablauf der Angebotsfrist auch immer unter dem Blickwinkel der Rechtssicherheit. Denn nach § 160 Abs. 3 Nr. 2 GWB präkludieren Vergabefehler, die aufgrund der Bekanntmachung erkennbar sind, wenn sie nicht spätestens bis zum Ablauf der in der Bekanntmachung benannten Frist zur Bewerbung oder zur Angebotsabgabe gegenüber dem Auftraggeber gerügt werden.
In der Folge wäre der auf einen präkludierten Vergabeverstoß gestützte Nachprüfungsantrag unzulässig. Diese Sichtweise birgt allerdings Gefahren, wie das BayObLG am Beispiel der unterlassenen losweisen Vergabe in einem kürzlich ergangenen Beschluss (vom 06.09.2023, Verg 5 / 22) dargelegt hat.
I. Der Sachverhalt
Der öffentliche Auftraggeber schrieb Projektsteuerungsleistungen zur Sanierung eines Museums EU-weit aus. Beauftragt werden sollte die Projektsteuerung mit Schnittstellenmanagement für das Gesamtprojekt sowie für das Teilprojekt Bau und das Teilprojekt Ausstellungen, das die Neugestaltung von fünf Einzelausstellungen umfasste. Eine Losaufteilung war nicht vorgesehen.
Ein Unternehmen rügte einen anderen vermeintlichen Vergabeverstoß und stellte einen Nachprüfungsauftrag. Im Nachprüfungsverfahren rügte es auch die unterlassene Losaufteilung.
Die Vergabekammer wies den Nachprüfungsantrag zurück. Der Antragsteller sei mit der Rüge der unterbliebenen Losaufteilung nach § 160 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 und Nr. 3 GWB präkludiert. Dass die Antragsgegnerin keine Losaufteilung vorgenommen habe, sei aus der Bekanntmachung und den Vergabeunterlagen ersichtlich gewesen.
Dagegen wandte sich der Antragsteller mit seiner sofortigen Beschwerde.
Der Autor
Norbert Dippel ist Syndikus der cosinex sowie Rechtsanwalt für Vergaberecht und öffentliches Wirtschaftsrecht. Der Autor und Mitherausgeber diverser vergaberechtlicher Kommentare und Publikationen war viele Jahre als Leiter Recht und Vergabe sowie Prokurist eines Bundesunternehmens tätig.
II. Der Beschluss
Der Vergabesenat gibt dem Antragsteller Recht. Aufgrund seiner zulässigen sofortigen Beschwerde muss der Auftraggeber bei Fortbestehen der Beschaffungsabsicht das Verfahren unter Beachtung der Rechtsauffassung des Senats in den Stand vor der Auftragsbekanntmachung zurückversetzen.
1. Allgemeines zur Erkennbarkeit
Der Vergabesenat hält den Antragsteller für antragsbefugt und insbesondere den Vorwurf der unterlassenen Losaufteilung für nicht präkludiert.
Der Vergabesenat stellt zunächst fest, dass der Antragsteller die fehlende Losaufteilung weder im Rügeschreiben noch im Nachprüfungsantrag erwähnt hat. Allerdings liege nach seiner Ansicht ein aufgrund der Bekanntmachung oder der Vergabeunterlagen erkennbarer Verstoß im Sinne des § 160 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 oder Nr. 3 GWB nicht vor. Dabei führt der Vergabesenat zunächst grundlegend hinsichtlich des Maßstabs der „Erkennbarkeit“ aus:
„Die Erkennbarkeit des Verstoßes gegen eine Vergabevorschrift setzt einerseits die Erkennbarkeit der maßgeblichen Tatsachen, andererseits die Erkennbarkeit des Rechtsverstoßes voraus. Dabei muss der Verstoß so deutlich zutage treten, dass er einem verständigen Bieter bei der Vorbereitung seines Angebots beziehungsweise seiner Bewerbung auffallen muss; übersteigerte tatsächliche und rechtliche Anforderungen dürfen diesbezüglich nicht an einen Bieter gestellt werden.
Maßstab ist nach Ansicht des Senats ein durchschnittlich fachkundiger Bieter, der die übliche Sorgfalt anwendet. Ob für die Erkennbarkeit des Vergabeverstoßes ein objektiver, auf den durchschnittlichen verständigen Bewerber oder ein subjektiver, auf die individuellen Verhältnisse des Bieters abstellender Maßstab anzuwenden ist, wurde und wird kontrovers diskutiert. (…) Der Senat schließt sich der ersten, inzwischen herrschenden Meinung an. Für diese spricht insbesondere die Übereinstimmung mit den Grundsätzen zur Auslegung der Vergabeunterlagen. Insoweit kommt es nicht auf das Verständnis des individuellen, konkreten Bewerbers an, sondern auf den objektiven Empfängerhorizont eines potenziellen Bieters (unter Hinweis auf: BGH, Beschl. v. 7. Januar 2014, X ZB 15/13, NZBau 2014, 185 Rn. 31; BGH, Beschl. v. 3. April 2012, X ZR 130/10 Rn. 10; BayObLG, Beschl. v. 26. Mai 2023, Verg 2/23, juris Rn. 67); maßgeblich sei, wie ein verständiger, sachkundiger und mit derartigen Beschaffungsvorgängen vertrauter Bieter die Vergabeunterlagen verstehen muss. Es liege nahe, nach denselben Grundsätzen auch die Erkennbarkeit von Vergabeverstößen aus den Vergabeunterlagen zu bewerten. Der objektive Maßstab steht ferner im Einklang mit dem Wortlaut des § 160 Abs. 3 GWB. Während der Rügetatbestand in Ziffer 1 explizit auf den Erkenntnisstand des konkreten Bieters abstellt, wird die individuelle Ausprägung in den Ziffern 2 und 3 nicht wiederholt, also keine Erkennbarkeit „für den Antragsteller“, sondern nur die (generelle) Erkennbarkeit anhand der Bekanntmachung beziehungsweise der Vergabeunterlagen gefordert.“
2. Auf den Fall bezogen
Zunächst setzt sich der Vergabesenat mit dem Gebot der losweisen Vergabe auseinander: Gemäß § 97 Abs. 4 Satz 2 GWB seien Leistungen in der Menge aufgeteilt (Teillose) und getrennt nach Art oder Fachgebiet (Fachlose) zu vergeben. Unter dem Begriff „Fachlos“ seien Leistungen zu verstehen, die von einem bestimmten Handwerks- oder Gewerbebetrieb ausgeführt werden, die also einem bestimmten Fachgebiet zuzuordnen sind. Für die Frage, ob die Bildung eines eigenständigen Fachloses geboten ist, komme es darauf an, ob für die spezielle Leistung ein eigener Anbietermarkt mit spezialisierten Fachunternehmen seit längerem bestehe oder sich gerade herausgebildet hat. Entscheidend sei mithin eine hinreichende Abgrenzbarkeit.
Unter Anwendung dieser Grundsätze bestand vorliegend jedenfalls keine Rügepflicht des Antragstellers. Aus Sicht des Vergabesenats sei zwar einem durchschnittlichen Bieter zu unterstellen, dass er die Pflicht zur Verankerung von Fachlosen kennt, wogegen vorliegend offensichtlich verstoßen wurde. Indessen genüge dies nicht. Eine Rügepflicht setze nämlich ferner voraus, dass ein durchschnittlich fachkundiger Bieter unter Anwendung der üblichen Sorgfalt auch erkennen kann, dass es einen eigenständigen Anbietermarkt mit spezialisierten Fachunternehmen im Bereich der Projektsteuerung von Ausstellungen gibt. Das Bestehen eines derartigen Markts könne in einzelnen Bereichen wie etwa der Glasreinigung ohne Weiteres erkennbar sein.
Vorliegend sei das Bestehen eines derart spezialisierten Markts aber weder nach dem Vortrag der Parteien noch sonst offensichtlich. Insbesondere war auch ein durchschnittlich fachkundiger Bieter unter Anwendung der üblichen Sorgfalt nicht verpflichtet, zunächst selbst eine Markterkundung durchzuführen, um sich Klarheit über das Bestehen eines speziellen Anbietermarkts und damit verbunden die Pflicht zur Fachlosbildung zu verschaffen. Allein aus der Tatsache, dass ein Bieter – wie vorliegend der Antragsteller – selbst über keine entsprechende Referenz verfüge, konnte und musste er auch noch nicht auf das Bestehen eines eigenen Anbietermarkts zur Projektsteuerung im Bereich Ausstellungen schließen.
Nur ergänzend verweist der Vergabesenat auf Folgendes: Besteht nach § 97 Abs. 4 Satz 2 GWB grundsätzlich eine Pflicht zur Losaufteilung, könne hiervon nach § 97 Abs. 4 Satz 3 GWB abgesehen werden, wenn wirtschaftliche oder technische Gründe dies erforderten. Ob eine Rügepflicht nach § 160 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 bzw. 3 GWB nur dann bestehe, wenn auch die Gründe des Auftraggebers, von der Losbildung abzusehen, für den Bieter erkennbar waren, erscheine fraglich.
Dagegen spreche, dass bei Bestehen eines spezialisierten Marktes die Fachlosbildung den Regelfall und das Absehen davon die für den Auftraggeber begründungsbedürftige Ausnahme darstelle, so dass nach den Umständen ein Vergabeverstoß naheliege. Mit Sinn und Zweck der Rügepflicht erscheine es nur schwer zu vereinbaren, wenn der Bieter sich in einer derartigen Situation die Rüge des – naheliegenden – Vergabeverstoßes für den Fall vorbehalten könne, dass sein Angebot nicht zum Zuge kommen soll. Letztlich würde die Rügepflicht in erheblichem Umfang leerlaufen, wenn der Bieter erst nach Erkennbarkeit der Gründe des Auftraggebers, also häufig erst nach Einsicht in den Vergabevermerk, zur Rüge verpflichtet sein könnte.
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III. Hinweise für die Praxis
Der vorstehend wiedergegebenen Beschluss des BayObLG kann wie folgt zusammengefasst werden: Der Antragsteller kann mit der Rüge der fehlenden Fachlosaufteilung nach § 160 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 oder Nr. 3 GWB nur präkludiert sein, wenn ein durchschnittlich fachkundiger Bieter unter Anwendung der üblichen Sorgfalt hätte erkennen können, dass es im maßgeblichen Fachbereich einen eigenständigen Anbietermarkt mit spezialisierten Fachunternehmen gibt.
Für den Auftraggeber bedeutet dies, dass eine unterbliebene Losaufteilung durchaus auch noch nach Ablauf der Angebotsfrist gerügt werden kann. Der Bieter müsste dann darlegen, dass ihm unklar war, ob es in diesem maßgeblichen Fachbereich einen eigenständigen Anbietermarkt gibt. Die Erfolgsaussichten einer derartigen Argumentation dürften stark von dem jeweiligen Markt und seiner Anbieterstruktur abhängen. Jedenfalls ist die Erkennbarkeit eines aus den Vergabeunterlagen ersichtlichen Vergabefehlers nicht isoliert anhand der Vergabeunterlagen zu betrachten, sondern vor dem Hintergrund des konkreten Marktes.
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