Wird ein öffentlicher Auftrag während der Leistungsphase gekündigt, muss im Regelfall ein neues Vergabeverfahren durchgeführt werden. Dabei stellen sich unter anderem die Fragen, ob und in welchem Umfang auf die ursprüngliche Kostenschätzung zurückgegriffen werden kann. Sollte der ursprüngliche Auftrag den EU-Schwellenwert überschritten haben, der nach der Kündigung verbleibende Restwert der noch ausstehenden Leistung diesen aber unterschreiten, stellt sich die Frage, ob der Auftrag als „Teil eines EU-Auftrages“ EU-weit ausgeschrieben werden muss.

Die Vergabekammer des Bundes hat hierzu in einem Beschluss (Beschluss vom 04.07.2022, VK 2 – 58 / 22) ausführlich Stellung genommen.

Der Autor

Norbert Dippel ist Syndikus der cosinex sowie Rechtsanwalt für Vergaberecht und öffentliches Wirtschaftsrecht. Der Autor und Mitherausgeber diverser vergaberechtlicher Kommentare und Publikationen war viele Jahre als Leiter Recht und Vergabe sowie Prokurist eines Bundesunternehmens tätig.

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I. Der Sachverhalt

Die Vergabestelle schrieb einen Bauauftrag zur Strecken- und Brückensanierung europaweit aus.

Die spätere Antragstellerin erhielt den Zuschlag und begann zunächst mit der Auftragsdurchführung. Mitte 2022 kündigte die Auftraggeberin den Vertrag aus wichtigem Grund gem. § 8 Abs. 3 VOB/B.

Die Auftraggeberin schätzte den Auftragswert der noch verbleibenden Restarbeiten für die Streckensanierung und stellte fest, dass diese für sich genommen den EU-Schwellenwert nicht überschreiten. Auf dieser Grundlage wurde entsprechend der Basisvorschriften des 1. Abschnitts der VOB/A eine beschränkte Ausschreibung (besondere Dringlichkeit) der Restleistungen ohne Teilnahmewettbewerb veranlasst. Es wurden die drei nachrangigen Bieter, die sich mit einem Angebot an der ursprünglichen Ausschreibung des Auftrags beteiligt hatten, zur Abgabe eines neuen Angebots aufgefordert.

Nachdem die spätere Antragstellerin die beabsichtigte Vergabe der Restleistungen der Streckensanierung ohne ein neues EU-weites Vergabeverfahren erfolglos als vergaberechtswidrig gerügt hatte, stellte sie einen Nachprüfungsantrag.

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II. Der Beschluss

Die Vergabekammer des Bundes hält den Nachprüfungsantrag für nicht statthaft. Deshalb sei er als unzulässig zu verwerfen. Der Rechtsweg des Nachprüfungsverfahrens sei nicht eröffnet, da der hierfür maßgebliche Auftragsschwellenwert von 5.382.000 EUR im Rahmen der streitgegenständlichen Baumaßnahme nicht überschritten werde.

Die von der Ag vorgenommene Schätzung des Auftragswertes verbleibe deutlich unterhalb dieses Schwellenwertes und sei nicht zu beanstanden.

1. Allgemein zur Schätzung des Auftragswertes

Bei der Schätzung des Auftragswertes gem. § 3 VgV sei dem öffentlichen Auftraggeber ein Beurteilungsspielraum zuzuerkennen. Die Überprüfung sei auf Nachvollziehbarkeit und Plausibilität beschränkt. Denn die Schätzung sei ihrem Charakter nach eine Prognose, die im Vorfeld der eigentlichen Ausschreibung immer mit Unsicherheiten und Unwägbarkeiten behaftet sei. Die Kostenschätzung sei daher unter Zugrundelegung der ex-ante Perspektive des Auftraggebers nur dann zu beanstanden, wenn diese

  • beurteilungsfehlerhaft auf erkennbar unrichtigen Daten beruhe,
  • zur Verfügung stehende Daten oder eine vorhersehbare Kostenentwicklung unberücksichtigt geblieben seien oder
  • ungeprüft und pauschal Werte übernommen würden.

Methodisch setze die Schätzung des Auftragswerts zudem eine ernsthafte, realistische, vollständige und objektive Prognose voraus, die sich an den Marktgegebenheiten orientiere. Die Gegenstände der Schätzung und der ausgeschriebenen Maßnahme müssten deckungsgleich sein. Maßgeblich dafür seien im Ausgangspunkt die Positionen des Leistungsverzeichnisses, das der konkret durchgeführten Ausschreibung zu Grund liege. Das Ergebnis der Schätzung sei verwertbar, soweit sie mit diesem Leistungsverzeichnis übereinstimmten. Es sei gegebenenfalls anzupassen, soweit die der Schätzung zugrunde gelegten Preise oder Preisbemessungsfaktoren im Zeitpunkt der Bekanntmachung des Vergabeverfahrens nicht mehr aktuell waren und sich nicht unerheblich verändert hätten.

2. Zum konkreten Fall

Vorliegend habe die Auftraggeberin die Kosten ordnungsgemäß geschätzt. Ausweislich des Vergabevermerks habe das prognostizierte Auftragsvolumen den Auftragswert unterschritten.

Mit der Bepreisung des verfahrensgegenständlichen Leistungsverzeichnisses habe die Auftraggeberin methodisch ein anerkanntes Verfahren gewählt, um die Kosten der streitgegenständlichen Ausschreibung zu ermitteln. Nicht zu beanstanden sei dabei, dass die Auftraggeberin auf das Leistungsverzeichnis der ursprünglichen und zeitnahen Ausschreibung von der vorherigen Ausschreibung (Dezember 2021) zurückgegriffen hat, welches sich ausweislich der dortigen Angebotspreislage bereits in einem Vergabeverfahren bewährt und als belastbar herausgestellt hatte. Inzwischen eingetretene Preissteigerungen (für Bitumen und Asphalt) habe die Auftraggeberin berücksichtigt.

Die Kostenschätzung umfasse alle wesentlichen, tatsächlich noch erforderlichen Restleistungen der Streckensanierung und sei nicht zuletzt wegen der vorgenommenen Preisanpassungen auch hinsichtlich des preislichen Ansatzes nicht zu beanstanden.

3. Keine Berücksichtigung des bereits erbrachten Leistungsumfanges

Die Vergabekammer stellt klar, dass bereits erbrachte Leistungen grundsätzlich nicht zum tatsächlich noch bestehenden Beschaffungsbedarf hinzuzurechnen seien. Bereits nach dem Wortlaut des § 3 Abs. 1 GWB sei prognostisch vom „Gesamtwert der vorgesehenen Leistung“ auszugehen, was begrifflich bereits vollständig erbrachte Leistungen ausschließe.

Auch nach Sinn und Zweck der Regelung bezögen sich diese nur auf aktuell bestehenden, zukünftig zu realisierenden Beschaffungsbedarf und nicht auf bereits in der Vergangenheit realisierte Beschaffungsvorgänge, denn nur für ersteren sei eine Schätzung möglich und erforderlich. Dies werde auch durch Art. 5 Abs. 4 RL 2014/24/EG bestätigt, wonach für die Kostenschätzung auf den Zeitpunkt der Absendung des Wettbewerbsaufrufs bzw. die Einleitung des Vergabeverfahrens abzustellen sei. Der wesentliche Aspekt sei aber, dass sich die Kostenschätzung auf den Beschaffungsbedarf zu richten habe. Wurden Teile eines Auftrags bereits abschließend abgearbeitet, so bestünde diesbezüglich kein Bedarf mehr und diese Leistungen würden nicht mehr Inhalt des abzuschließenden Vertrags. Die diesbezügliche Beschaffung läge abgeschlossen in der Vergangenheit.

Nichts anderes ergebe sich aus § 3 Abs. 7 und 8 GWB. Dies Vorschriften bezögen sich auf die losweise Vergabe eines Gesamtauftrags. Vorliegend liege aber keine losweise Aufteilung der Streckensanierung vor. Diese sei ursprünglich als Gesamtauftrag ohne Losaufteilung ausgeschrieben worden. Die teilweise Erfüllung des Beschaffungsbedarfs durch die bereits im Rahmen des gekündigten Bauauftrags seitens der ASt erbrachten Bauleistungen begründe keine nachträgliche de-facto Losaufteilung, denn die Losaufteilung erfolge nach Sinn und Zweck zwingend vor Eröffnung der Ausschreibung, um den Bietern eine entsprechende Teilnahme am Wettbewerb zu ermöglichen. Dieser Zweck sei nach Auftragsvergabe nicht mehr erreichbar.

Von Praktikern, für Praktiker: Die cosinex Akademie

III. Hinweise für die Praxis

Nach dem dargestellten Beschluss ist klar: Nach Kündigung eines Bauvertrags sind für die Schätzung des Auftragswertes nur noch die zur Ausführung verbliebenen Leistungen als Beschaffungsgegenstand zu berücksichtigen.

Damit dürfte bei „angearbeiteten“ Aufträgen oftmals der Wechsel von einem EU-weiten Vergabeverfahren für die ursprüngliche Gesamtleistung hin zu einem nationalen Vergabeverfahren hinsichtlich der Festleistung möglich sein. Um nicht zu viel Zeit zu verlieren, dürfte ein besonderes Augenmerk auf den Ausnahmetatbestand § 3 a Abs. 2 Nr. 3 VOB/A liegen. Demnach ist eine beschränkte Ausschreibung ohne Teilnahewettbewerb zulässig, wenn „eine Öffentliche Ausschreibung oder eine Beschränkte Ausschreibung mit Teilnahmewettbewerb aus anderen Gründen (z. B. Dringlichkeit) unzweckmäßig ist.“ Auch hier ist wieder zu berücksichtigen, dass diese Vergabeart nur gewählt werden kann, wenn die Durchführung eines Regelverfahrens mit ggf. verkürzten Fristen zeitlich nicht akzeptabel wäre.