Die Vergabekammer des Bundes hat sich jüngst mit der Frage auseinandergesetzt, wann die Vergabestelle Preise aufklären muss und welcher Beurteilungsspielraum ihr dabei zukommt.
Der Autor
Norbert Dippel ist Syndikus der cosinex sowie Rechtsanwalt für Vergaberecht und öffentliches Wirtschaftsrecht. Der Autor und Mitherausgeber diverser vergaberechtlicher Kommentare und Publikationen war viele Jahre als Leiter Recht und Vergabe sowie Prokurist eines Bundesunternehmens tätig.
Ein Sachverhalt, der in der Vergabepraxis keine Seltenheit ist: Der zweitplatzierte Bieter bemängelt, dass ein preislich niedrigeres Angebot des Zuschlagsbieters nur unsolide kalkuliert sein kann, oder auf Quersubventionen beruht, weshalb eine Prüfung durch die Vergabestelle unumgänglich ist. Die Vergabestelle verweigert eine Preisaufklärung bei dem entsprechenden Angebot, der zweitplatzierte Bieter sieht darin einen Vergabefehler. Die Vergabestelle verweist auf ihren Beurteilungsspielraum, so dass der Streit bis zu den Nachprüfungsinstanzen getragen wird.
Mit einem vergleichbaren Fall hat sich die Vergabekammer des Bundes in einem jüngst ergangenen Beschluss (vom 04.04.2023, 2 – 18 / 23) auseinandergesetzt.
I. Der Sachverhalt
Die Vergabestelle schrieb einen Auftrag im offenen Verfahren EU-weit aus. Im Vergabevermerk wurde eine Auftragswertschätzung genannt, die dem Preisniveau der erstplatzierten Angebote entspricht. Daneben wurde in einem internen E-Mail-Verkehr zwischen Bedarfsträger und Vergabestelle ein weiterer, höherer Schätzwert genannt.
Die spätere Antragstellerin und die spätere Beigeladene gaben die Angebote ab. Das Angebot der Beigeladenen enthielt für jedes Los den günstigsten Preis. An zweiter Stelle war für jedes Los ein drittes Unternehmen platziert, dessen Preis sich jeweils nur geringfügig von dem jeweiligen losweisen Preis der Beigeladenen unterschied, aber letztlich ausgeschlossen werden musste. Das Angebot der Antragstellerin lag jeweils auf dem dritten Platz.
Nach erfolgter Mitteilung gemäß § 134 GWB rügte die Antragstellerin erfolglos insbesondere einen Verstoß gegen das Wettbewerbsprinzip sowie gegen § 60 VgV und führte überdies aus, dass der niedrige Preis auf einer Quersubventionierung innerhalb des Konzerns der Beigeladenen beziehungsweise einer Beihilfe beruhe. Jedenfalls müsse der niedrige Preis aufgeklärt werden. Die Vergabestelle lehnte eine weitere Preisaufklärung ab, da sie den Preis des Angebotes der Zuschlagskandidatin nicht für ungewöhnlich niedrig hielt.
II. Die Entscheidung
Die Vergabekammer hält den zulässigen Nachprüfungsantrag für unbegründet. Der von der Antragstellerin bemängelte Rechtsverstoß gegen § 60 VgV beziehungsweise den Wettbewerbsgrundsatz nach § 97 Abs. 1 S. 1 GWB liege nicht vor.
Nach Ansicht der Vergabekammer sei die Vergabestelle sachgemäß und damit fehlerfrei davon ausgegangen, dass der von der Beigeladenen angebotene Preis nicht ungewöhnlich niedrig im Sinne des § 60 Abs. 1 VgV sei.
1. Zum Prüfungsmaßstab
Die Vergabekammer betont, dass der Auftraggeber für die Entscheidung der Frage, ob der Preis eines Angebotes ungewöhnlich niedrig erscheine, über eine Einschätzungsprärogative verfüge. Diese können im Nachprüfungsverfahren grundsätzlich nur auf Beurteilungsfehler überprüft werden. Entscheidend sei, ob die Entscheidung beziehungsweise Annahme (des öffentlichen Auftraggebers), der fragliche Angebotspreis überschreite die Interventionsschwelle nicht, hinnehmbar erscheint. Das sei der Fall, wenn diese vertretbar, insbesondere nicht willkürlich sei und sie sich im Ergebnis nicht als eine krasse Fehlentscheidung darstelle (unter Berufung auf: OLG Düsseldorf, Beschluss vom 20. Dezember 2017, Verg 8/17).
Der Auftraggeber müsse bei seiner Einschätzung nach § 60 Abs. 1 VgV somit insbesondere sachgemäß und willkürfrei vorgehen und den entscheidungsrelevanten Sachverhalt zugrunde legen. Dies diene dazu, entsprechend zweifelhafte Angebote zu identifizieren, um gegebenenfalls im zweiten Schritt eine Prüfung nach § 60 Abs. 2 VgV einzuleiten, auf deren Grundlage sodann im dritten Schritt nach § 60 Abs. 3 bzw. § 60 Abs. 4 VgV zu entscheiden ist, ob der öffentliche Auftraggeber das Angebot ablehnt oder nicht.
Der Beurteilungsspielraum des Auftraggebers nach § 60 Abs. 1 VgV erstrecke sich auch auf die von ihm zur näheren Einschätzung herangezogenen Aspekte und erfordere eine Berücksichtigung all derjenigen Merkmale des konkreten Auftragsgegenstandes, die eine Einschätzung ermöglichen können, ob der angebotene Preis im Verhältnis zu der zu erbringenden Leistung ungewöhnlich niedrig erscheint (unter Hinweis auf: EuGH, Urteil vom 15. September 2022, C-669/22, Rn. 35, 37; VK Bund VK2-94/22, Beschluss vom 24. November 2022).
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2. Die Aufgreifschwelle
Zunächst betont die Vergabekammer, dass die konkreten Wettbewerbspreise in dem Vergabeverfahren zwar nicht der einzige, aber der vorrangige Aspekt seien, an den als Auslöser für eine Preisprüfung anzuknüpfen sei. Grundsätzlich setze der Vergabewettbewerb im Hinblick auf § 97 Abs. 1 S. 1 GWB unterschiedliche Preise voraus. Daraus folge für § 60 Abs. 1 VgV, dass erst erhebliche preisliche Unterschiede zwischen den konkurrierenden Angeboten Anhaltspunkte geben könnten, dass ein Angebot im Verhältnis zu der zu erbringenden Leistung ungewöhnlich niedrig erscheint.
Erst bei einem entsprechenden Abstand zwischen dem Angebot des betroffenen Bieters (maßgeblich dem Zuschlagsempfänger) und dem des nächstplatzierten Bieters sei der Auftraggeber im Regelfall dazu veranlasst, von einem ungewöhnlich niedrig erscheinenden Angebot ausgehen zu müssen. Dann sei die Prüfung der Auskömmlichkeit nach den Maßgaben des § 60 Abs. 2 VgV auszulösen und entsprechende Aufklärungsmaßnahmen seien zu ergreifen.
Für das Erreichen einer relevanten Aufgreifschwelle sei es grundsätzlich erforderlich, dass der Preisabstand zum nächsthöheren Angebot nicht zu niedrig ist, denn dem Verdikt eines unangemessen niedrigen Angebots wohne das Überschreiten einer gewissen Erheblichkeitsgrenze inne. Zu bedenken sei in diesem Zusammenhang, dass gerade ein günstiger Preis der eigentlich marktangemessene sein könne. Hier habe sich in der Praxis eine Größenordnung von etwa 20 % Preisabstand als Aufgreifschwelle etabliert, wobei freilich die Umstände des jeweiligen Einzelfalls zu berücksichtigen seien.
Eine Prüfung der Auskömmlichkeit habe die Vergabestelle sachgemäß im Hinblick auf das Angebot des späterhin ausgeschlossenen Unternehmens zu Los 1 vorgenommen, weil gemessen am mit dem Angebot eingereichten Angebotspreis die Aufgreifschwelle überschritten wurde. Bezogen auf die übrigen Angebote ergebe die Dokumentation der Vergabeentscheidung, dass die Vergabestelle keine Veranlassung zu einer Prüfung der Auskömmlichkeit der Preise sah. Diese Einschätzung sei anhand der Vergabedokumentation auch ohne Weiteres nachvollziehbar. Denn die Angebote der Beigeladenen und des zweitplatzierten Unternehmens für alle drei Lose lagen sehr eng beieinander und damit erheblich unterhalb der Aufgreifschwelle von 20 %.
3. Abweichung von der eigenen Kostenschätzung
Ausdrücklich setzt sich die Vergabekammer mit der Frage auseinander, ob ein Beurteilungsfehler der Vergabestelle nicht deshalb vorliege, weil der Angebotspreis der Beigeladenen die Kostenschätzung der Vergabestelle erheblich unterschreitet. Auch die Kostenschätzung könne ein Kriterium im Rahmen der Identifizierung ungewöhnlich niedriger Angebote darstellen.
Im konkreten Fall ergebe sich zwischen dem Angebot der Beigeladenen und der Kostenschätzung zwar ein erheblicher Preisunterschied, der die Aufgreifschwelle überschreitet. Die Schätzkosten vom Dezember 2022 orientierten sich jedoch am Altauftrag und dessen Preisen. Die Vergabestelle habe plausibel dargelegt, dass diese Schätzkosten lediglich dazu dienten, in jedem Fall in ausreichendem Maße Haushaltsmittel für den im streitgegenständlichen Vergabeverfahren auszuschreibenden Auftrag verfügbar zu haben. Dieser Ansatz sei von der Vergabestelle ausgegangen, um die finanzielle Basis des Beschaffungsvorhabens in Gestalt von Haushaltsmitteln vorsorglich abzusichern und das Risiko einer entsprechenden Aufhebung wegen einer Überschreitung des Kostenrahmens auszuschließen.
Die Schätzung des Auftragswertes durch den Bedarfsträger sei demgegenüber mit einem niedrigeren Wert dokumentiert. Der Abstand dieses Werts zu dem Zuschlagsangebot liege deutlich unterhalb der Aufgreifschwelle von 20 %, so dass auch die Schätzung des Auftragswerts durch die Vergabestelle keine Preisprüfung indiziere.
4. Keine Quersubventionierung ersichtlich
Die Vergabekammer führt zunächst aus, dass die Prüfung gem. § 60 Abs. 1 VgV grundsätzlich nicht auf die Betrachtung der im Wettbewerb abgegebenen konkurrierenden Angebote begrenzt sei. Bei der von der Antragstellerin bemängelten möglichen konzerninternen Quersubventionierung der Beigeladenen sei es gerade eine Wettbewerbsverzerrung, die sich nach ihrer Ansicht unstatthaft auf den Angebotspreis der Beigeladenen ausgewirkt habe.
Vorliegend habe sich die Vergabestelle auch in Reaktion auf die Rüge der Antragstellerin besonders auf die Angebotslage konzentriert. Sie habe sich einen Gesamteindruck des Angebotswettbewerbs verschafft, um damit eine Einschätzung der wettbewerblichen Auswirkungen zu gewinnen, deren Verzerrung die Antragstellerin gerade bemängelt. Damit sei die Vergabestelle dem Rügevorbringen sachgemäß nachgegangen. In dieser Vorgehensweise sei somit ebenfalls keine fehlerhafte Verengung des Einschätzungsspielraums nach § 60 Abs. 1 VgV festzustellen. Sei der Preis eines Angebots im Quervergleich mit den Wettbewerbsangeboten nicht ungewöhnlich niedrig, so ist die Aufgreifschwelle nicht überschritten.
5. Vermeintliche Beihilfe
Die Vergabekammer stellt klar, dass als vergaberechtlicher Anknüpfungspunkt für beihilferechtliche Fragestellungen ein ungewöhnlich niedriges Angebot vorliegen müsse. Daran mangele es allerdings, da die festgestellte Angebotslage eine Bandbreite von mehreren eng beieinander liegenden Angeboten offenbare. Diese seien das Ergebnis eines ordnungsgemäßen Vergabewettbewerbs, was auch eine Feststellung gemäß § 60 Abs. 4 VgV ausschlösse, dass das Angebot der Beigeladenen aufgrund der von der Antragstellerin behaupteten Beihilfe ungewöhnlich niedrig sei.
Vielmehr sei auf dieser Grundlage festzustellen, dass das betreffende Angebot der Beigeladenen Teil eines Wettbewerbsumfelds sei, welches aus unabhängig voneinander abgegebenen und eng beieinander liegenden Angeboten besteht. Die in § 60 Abs. 4 VgV vorausgesetzte Kausalität, wonach ein festgestellter ungewöhnlich niedriger Preis auf eine unrechtmäßig erhaltene Beihilfe zurückgehen müsse, liefe daher ins Leere.
III. Hinweise für die Praxis
Der Umgang mit ungewöhnlich niedrig erscheinenden Angeboten war schon mehrmals Thema im cosinex Blog. Letztlich ist aus Sicht der Vergabestelle entscheidend, dass das Vergabeverfahren auf der Basis einer fundierten Schätzung des prognostizierten Auftragswertes beruht.
Etwaige Abweichungen zwischen den Angeboten verpflichten – wie oben dargestellt – erst bei Überschreitung einer Erheblichkeitsschwelle (im Regelfall 20 % des Abstands vom Zuschlagsangebot zum Verfolgerangebot) zur Durchführung einer Preisprüfung. Eine Vergabestelle sollte dies auch als Chance sehen, etwaige Missverständnisse des Zuschlagsbieters hinsichtlich der angebotenen Leistung aufzuklären. Denn letztlich muss es einen Grund für den geringen Preis geben. Der Beschaffungserfolg ist gefährdet, wenn der geringe Preis auf falschen Annahmen des Bieters, einer unsoliden Kalkulation oder Verstößen gegen gesetzliche Auflagen beruht.
Die gebotene Sorgfalt kann eine Aufklärung des Preises auch schon dann erfordern, wenn die regelmäßig geforderte Aufgreifschwelle von 20 % unterschritten wird. Denn letztlich muss auch bei geringeren Abweichungen sichergestellt sein, dass die Leistung zu diesen Konditionen von dem konkreten Bieter erbracht werden kann.
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