Die Textform wird in den verschiedenen Vergaberegimen an unterschiedlichen Stellen vorgeschrieben.

Die Schätzung des Auftragswertes ist einer der ersten Schritte bei der Vorbereitung eines Vergabeverfahrens. Gerade bei komplexeren Aufträgen, der Aufteilung in verschiedene Lose sowie bei zeitlich lang gestreckten Vorhaben kann es kompliziert werden. Das Schleswig-Holsteinische Oberlandesgericht hat im Rahmen eines Beschlusses (vom 07.01.2021, 54 Verg 6 / 20) wesentliche Grundsätze für die ordnungsgemäße Schätzung des Auftragswertes dargestellt.

I. Der Sachverhalt

Die öffentliche Auftraggeberin betreibt ein Messegelände. Bereits 2009 hat sie mit dem Vorhaben zur Modernisierung und Erweiterung des Messegeländes (geschätztes Bauvolumen von 24 Mio. EUR) begonnen. Ein Teil des Messegeländes ist ein Kongresszentrum. Im April 2020 schrieb sie den Neubau und die Erweiterung des Kongresszentrums aus. Dabei wurde das Los „Mobile Trennwandanlagen“ EU-weit ausgeschrieben. Tatsächlich hat der Wert dieses Loses den EU-Schwellenwert unterschritten.

Der Autor

Norbert Dippel ist Syndikus der cosinex sowie Rechtsanwalt für Vergaberecht und öffentliches Wirtschaftsrecht. Der Autor und Mitherausgeber diverser vergaberechtlicher Kommentare und Publikationen war viele Jahre als Leiter Recht und Vergabe sowie Prokurist eines Bundesunternehmens tätig.

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Eine Bieterin stellte einen Nachprüfungsantrag. Im Nachprüfungsverfahren wurde bereits streitig, ob der geforderte Schwellenwert überhaupt erreicht war. Dies war wichtig, da Nachprüfungsverfahren nur bei Überschreiten des EU-Schwellenwerts zulässig sind.

Die Bieterin argumentierte insbesondere:

  • Das Vorhaben gehöre zu dem 2009 begonnenen Projekt „Erweiterung des Messegeländes“, weshalb der Schwellenwert überschritten sei.
  • Der Gesamtzusammenhang ergebe sich auch aus dem Umstand, dass weitgehend die identischen Planer mit den Bauvorhaben befasst gewesen seien.
  • Die Kostenermittlung für das Los beruhe auf einen Förderantrag aus dem Jahr 2017 (Kostenschätzung 5,5 Mio. EUR). Schon aufgrund des Zeitablaufs sei ein Sicherheitszuschlag von 10 % zu veranschlagen.
  • Die Planungskosten seien in die Ermittlung der Gesamtkosten einzubeziehen.

Die Vergabekammer folgte dieser Argumentation nicht und verwarf den Nachprüfungsantrag, da der EU-Schwellenwert nicht überschritten sei.

Nach Ansicht der Vergabekammer sei zur Ermittlung des Auftragsvolumens allein auf das Vorhaben Neubau und Erweiterung des Kongresszentrums abzustellen. Das Vorhaben Modernisierung und Erweiterung des Messegeländes sei bereits im Jahr 2015 abgeschlossen gewesen, für das streitgegenständliche Vorhaben wurde erst im Jahr 2016 eine Potenzialanalyse beauftragt.

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II. Die Entscheidung

Der Vergabesenat bestätigte die Entscheidung der Vergabekammer. Auch der Vergabesenat ging trotz der EU-weiten Ausschreibung davon aus, dass hier ein Nachprüfungsverfahren unzulässig ist, da der EU-Schwellenwert nicht erreicht wurde.

1. Zum Zeitpunkt der Schätzung

Zunächst war bereits fraglich, ob der zum Zeitpunkt der Bekanntmachung der Planungsleistungen (2017) geltende Schwellenwert oder der Schwellenwert der Bekanntmachung des Loses (April 2020) zur Anwendung kommt. Der Vergabesenat stellte fest, dass nach § 3 Abs. 3 VgV der maßgebliche Zeitpunkt für die Schätzung des Auftragswertes der Tag, an dem die Auftragsbekanntmachung des betreffenden Loses zur Veröffentlichung an das Amt für Veröffentlichungen der EU versendet oder das Vergabeverfahren sonst eingeleitet werde.

2. Zur Berücksichtigung der Planungsleistungen

Ob dem Wert des Loses auch der Wert der anderen Aufträge (hier, der Planungsleistungen) hinzuzurechnen sei, richte sich nach den Vorschriften des § 3 Abs. 6,  7 VgV.

Durch die Hinzurechnung würden die einzelnen Aufträge aber nicht zu einem Gesamtauftrag zusammengefasst, der dazu führt, dass der Zeitpunkt der Kostenschätzung vorzuverlegen sei.  Bei der Vergabe von Bauleistungen einerseits und Planungsleistungen andererseits handele es sich aber nicht um die Vergabe von Losen, weil dazu die vergebenen Leistungen gleichartig sein müssten. Insoweit müsse der Wert der Planungsleistungen nicht hinzugerechnet werden.

3. Was ist in den Auftragswert einzubeziehen?

Nach § 3 Abs. 1 VgV sei bei der Schätzung des Auftragswertes von dem voraussichtlichen Gesamtwert der vorgesehenen Leistung ohne Umsatzsteuer auszugehen. Blieben Zweifel am Erreichen des Schwellenwerts, so gehe das zulasten des Bieters, der das Nachprüfungsverfahren durchführen will.

Bei der Frage, welche Leistungen bei der Ermittlung des Auftragswertes einzubeziehen sind, sei eine funktionale Betrachtungsweise geboten, wobei organisatorische, inhaltliche, wirtschaftliche und technische Zusammenhänge zu berücksichtigen seien. Von Bedeutung seien auch räumliche und zeitliche Zusammenhänge. Ein einheitlicher Auftrag sei insbesondere dann anzunehmen, wenn der eine Teil der Leistung ohne den anderen keine sinnvolle Funktion zu erfüllen vermag.

Vorliegend würden messebegleitend häufiger Kongresse abgehalten, sodass die Schaffung des Kongresszentrums der Stärkung des Messebetriebes diene. Andererseits bestünde kein so enger Zusammenhang, dass das Messezentrum (24 Mio. EUR Baukosten) nicht ohne das Kongresszentrum genutzt werden könne. Die damit mögliche getrennte funktionale Nutzung führe zu der Annahme verschiedener Vorhaben.

4. Keine Umgehung

Grundsätzlich stehe dem öffentlichen Auftraggeber ein weiter Ermessensspielraum bei der Frage zu, wie er seine Vorhaben umsetzt. Der Spielraum werde erst überschritten, wenn die Aufteilung eine sachwidrige Umgehung sei (§ 3 Abs. 2 VgV). Kein Anhaltspunkt für eine Umgehung sei erkennbar, wenn verschiedene Maßnahmen zeitlich getrennt geplant würden. So liege es hier, weil der Bedarf für die Ausweitung des Konferenzbetriebes sich erst später zeigte. Dabei setzte sich der Vergabesenat sehr intensiv mit den ursprünglichen Planungen auseinander. Schon aus der zeitlichen Abfolge der Erweiterung der Messehallen einerseits sowie dem Bau der Kongresshalle andererseits folgerte er, dass es sich um zwei getrennte Aufträge handele. Dass dabei das identische Planungsbüro zum Zuge kam, sei ohne Belang.

5. Zur Dokumentation der Kostenschätzung

Die Antragsgegnerin hat die Kostenschätzung zwar nicht ordnungsgemäß dokumentiert (§ 8 VgV). Eine unterlassene Dokumentation könne aber – sogar noch im Beschwerdeverfahren – durch die Übergabe von Unterlagen geheilt werden, aus denen sich die Kosten des Vorhabens ergäben. Ein vollständiger Ausschluss mit Vorbringen, das nicht dokumentiert sei, aber die Vergabeentscheidung rechtfertigen soll, würde dem Gebot der Beschleunigung des Vergabeverfahrens widersprechen und sei eine bloße Förmelei.

In dem Verfahren hat die Vergabestelle eine Kostenberechnung vorgelegt, welche für die Beantragung von Fördergeldern genutzt wurde. Diese Werte habe sie sich als Kostenschätzung zu Eigen gemacht. Damit sei die Kostenschätzung hinreichend dokumentiert.

6. Indizwirkung der EU-weiten Bekanntmachung

Vorliegend hat die Vergabestelle den Großteil der Lose europaweit ausgeschrieben und im Übrigen von der Regelung des § 3 Abs. 9 VgV Gebrauch gemacht. Demnach können Lose im Gesamtwert von 20 % des gesamten Auftragswertes im Rahmen nationaler Verfahren vergeben werden. Nach Ansicht des Vergabesenats ergebe sich nicht, dass die Antragsgegnerin tatsächlich von einer Überschreitung des Schwellenwertes ausgegangen sei. Insoweit habe die Vergabestelle plausibel dargelegt, dass sie das offene Verfahren (für die meisten Lose) gewählt habe, um Schwierigkeiten bei einer Abrechnung der Förderung aus EU-Mitteln, bei der eine abweichende Auffassung über den Auftragswert vertreten werden könnte, zu vermeiden. Diese Argumentation hielt der Vergabesenat für plausibel.

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7. Ordnungsgemäße Schätzung

Nach Ansicht des Vergabesenats habe die Vergabestelle den Wert des Bauauftrages grundsätzlich ordnungsgemäß geschätzt.

Die Schätzung des Auftragswertes setze eine realistische, vollständige und objektive Prognose voraus, die sich an den Marktgegebenheiten orientiert. Der Auftraggeber müsse eine Methode wählen, die ein wirklichkeitsnahes Schätzergebnis ernsthaft erwarten lasse, und der Schätzung zutreffende Daten zugrunde legen. Pflichtgemäß geschätzt sei ein Auftragswert, den ein umsichtiger und sachkundiger öffentlicher Auftraggeber nach sorgfältiger Prüfung des relevanten Marktsegments und im Einklang mit den Erfordernissen betriebswirtschaftlicher Finanzplanung bei der geplanten Beschaffung veranschlagen würde.

Die Kostenschätzung könne im Nachprüfungsverfahren lediglich auf Nachvollziehbarkeit und Plausibilität geprüft werden. Dem Auftraggeber komme ein Beurteilungsspielraum zu, dessen Einhaltung nur eingeschränkt überprüft werden könne. Fehle indes eine ordnungsgemäße oder plausible Auftragswertschätzung, sei bei der Nachprüfung eine eigene Schätzung durchzuführen.

Nach diesen Maßstäben sei es nicht zu beanstanden, dass die Vergabestelle ihrer Beurteilung, ob der Schwellenwert erreicht sei, die Kostenberechnung im Kontext des Förderantrags zugrunde gelegt hat. Es handele sich bei der Kostenberechnung durch einen Architekten um eine realistische, den Umfang der zu erstellenden Leistungen hinreichend detailliert erfassende, Marktwerte berücksichtigende Schätzung der voraussichtlichen Baukosten. Beurteilungsfehler wie sachfremde Erwägungen oder die Überschreitung der Beurteilungsgrenzen seien nicht erkennbar.

Es sei nicht zu beanstanden, dass die Antragsgegnerin bei der Kostenschätzung keinen Sicherheitszuschlag ausgewiesen habe. Ein Puffer für Unvorhergesehenes sei nicht in die Schätzung einzubeziehen.

III. Hinweise für die Praxis

Selbst „alte Hasen“ neigen dazu, den Auftragsgegenstand mit Blick auf die Schätzung des Auftragswertes zu umfassend zu definieren. Das Schleswig-Holsteinische OLG hat diesbezüglich eine sachlich fundierte Eingrenzung vorgenommen. Beispielsweise hat der Vergabesenat auch darauf hingewiesen, dass sogenannte Bauherrenkosten wie Kosten für die Projektplanung, sonstige Nebenkosten wie die Kosten für Rechtsberatung und Kosten für Planungsleistungen, die allein im Interesse des Bauherrn erbracht werden, nicht heranzuziehen seien, weil sie nicht für den Bauauftrag als solchen anfielen.

Da Bau- und Planungsleistungen nach § 3 Abs. 6 S. 2 VgV getrennt vergeben werden können, müssen die Auftragswerte bei getrennter Vergabe nicht zusammengerechnet werden.

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