Eine Folge des russischen Angriffs auf die Ukraine sind die galoppierenden Preise für Rohstoffe und Energie. Sie können gleichermaßen für Bieter wie Auftraggeber zu einer Belastung werden: Bieter können ihre Angebotspreise nicht kalkulieren, öffentliche Auftraggeber erfahren, dass ihre Schätzungen des Auftragsvolumens durch den rasanten Preisanstieg oftmals überholt werden.
Der Autor
Norbert Dippel ist Syndikus der cosinex sowie Rechtsanwalt für Vergaberecht und öffentliches Wirtschaftsrecht. Der Autor und Mitherausgeber diverser vergaberechtlicher Kommentare und Publikationen war viele Jahre als Leiter Recht und Vergabe sowie Prokurist eines Bundesunternehmens tätig.
Wie mit den daraus resultierenden vergaberechtlichen Fragen umzugehen ist, hat die Vergabekammer Westfalen (Beschluss vom 12.07.2022, VK 3 – 24 / 22) unlängst herausgearbeitet.
I. Der Sachverhalt
Im November 2021 führte die Vergabestelle eine Kostenschätzung für einen Bauauftrag durch, der anschließend EU-weit ausgeschrieben wurde. Das von der späteren Antragstellerin am 04.03.2022 abgegebene Angebot lag um etwa 20 % unter dem Angebot der Beigeladenen.
Vor dem Hintergrund des Ende Februar begonnenen Ukraine-Kriegs und der daraufhin erfolgten Preissteigerungen nahm die Vergabestelle Mitte März eine erneute Kostenschätzung vor, die um mehr als 50 % höher ausfiel als die im November durchgeführte.
Im Anschluss führte sie eine „Aufklärung zur Auskömmlichkeit der Angebote“ durch, indem sie die Bieter aufforderte, „die Auskömmlichkeit Ihres Angebots schriftlich zu bestätigen“.
Sowohl die Antragstellerin als auch der zweit- und drittplatzierte Bieter gaben keine Bestätigung ab. Ende April teilte die Vergabestelle mit, dass das Angebot der Antragstellerin nicht in die engere Wahl komme und das Angebot der Beigeladenen den Zuschlag erhalten solle. Sie begründete ihre Entscheidung damit, dass das Angebot der Antragstellerin einen unangemessen niedrigen Preis aufweise.
Daraufhin rügte die Antragstellerin die Auswahlentscheidung. Sie verwies insbesondere auf das Schreiben des Ministeriums für Finanzen des Landes Nordrhein-Westfalen vom 19.04.2022 (nachfolgend „Ministeriumsschreiben“) sowie auf den Erlass des Bundesministeriums für Wohnen, Stadtentwicklung und Bauwesen vom 25.03.2022 (nachfolgend „Erlass“). Darin sei geregelt, dass laufende Vergabeverfahren, bei denen es noch zu keiner Zuschlagserteilung gekommen sei, in den Stand vor Angebotsabgabe zurückversetzt und mit Stoffpreisgleitklauseln versehen werden müssten.
Nachdem der Antragsgegner der Rüge nicht abhalf, stellte die Antragstellerin einen Antrag auf Nachprüfung.
II. Die Entscheidung
Die Vergabekammer hält den Nachprüfungsantrag für zulässig und begründet. Dabei setzt sie sich insbesondere mit den drei folgenden Argumenten auseinander:
1. Vergaberechtliche Bindungswirkung des Erlasses
Nach Ansicht der Vergabekammer handele es sich bei dem oben genannten Ministeriumsschreiben sowie dem Erlass nicht um Vergabevorschriften, deren Verletzung gemäß § 160 Abs. 2 GWB geltend gemacht werden könnte. Zwar sei in zeitlicher Hinsicht der Anwendungsbereich des Ministeriumsschreibens und des Erlasses eröffnet, da es sich zum Erlasszeitpunkt um ein laufendes Vergabeverfahren gehandelt habe.
Ungeachtet seines Inhalts entfalte eine inneradministrativ wirkende Vorschrift allerdings keine vergaberechtliche Relevanz in einem Nachprüfungsverfahren. Zwar mag man – eine bestimmte Lesart unterstellt – zu der Auffassung gelangen, dass ausweislich des Erlasses zwingend Stoffpreisgleitklauseln für Vergabeverfahren, die noch nicht durch Zuschlag beendet wurden, vereinbart werden müssten.
Allerdings vermöge der Erlass kein zwingendes Vergaberechtsgebot mit Außenwirkung statuieren, deren Nichtbefolgung im Rahmen des Nachprüfungsverfahrens geltend gemacht werden könne. Es handele sich insoweit um eine rein verwaltungsinterne Anweisung, die allenfalls auf dem allgemeinen Verwaltungsrechtsweg überprüft werden könne.
2. Mangelhafte Kostenschätzung
Weiterhin stellt die Vergabekammer fest, dass bei der Beurteilung der Unangemessenheit eines Angebotspreises die Kostenschätzung des Auftraggebers herangezogen werden könne. Dazu müssten allerdings bei ihrer Aufstellung die vorliegenden und erkennbaren Daten vertretbar gewürdigt werden (unter Hinweis auf: BGH, Beschluss vom 20.11.2012, X ZR 108/10).
Zusätzlich müsse die Kostenschätzung auf jeden Fall vor Eingang der Angebote durchgeführt sein. Andernfalls bestünden zugunsten des öffentlichen Auftraggebers erhebliche Missbrauchspotentiale. So könnte er anhand einer nachträglich durchgeführten Kostenschätzung und mit dem Wissen um die einzelnen Angebotspreise „unliebsame“ Bieter leichter ausschließen. Vorliegend sei die zweite Kostenschätzung etwa 2 ½ Wochen nach Angebotsabgabe erstellt worden. Dieses Vorgehen sei vergaberechtswidrig.
Weiterhin sei auch die durchgeführte Preisprüfung und Preisaufklärung nicht vergaberechtskonform erfolgt. Dabei führte die Vergabekammer zunächst zu dem Rechtsrahmen aus: Komme der Auftraggeber zu dem Ergebnis, dass ein unangemessen niedriges Angebot vorliegen könnte, trete er in die Preisprüfung ein. Könne die Preisprüfung anhand der vorliegenden Unterlagen nicht durchgeführt werden, sei der Auftraggeber gemäß § 16d EU Abs. 1 Nr. 2 VOB/A verpflichtet, Aufklärung über die Ermittlung der Preise oder Kosten für die Gesamtleistung beim Bieter zu verlangen.
Nach dem Wortlaut des § 16 EU Abs. 1 Nr. 2 VOB/A sei bereits klar, dass der Ausschluss eines Angebots erst nach erfolgter Aufklärung über die Ermittlung der Preise und Kosten für die Gesamtleistung oder für Teilleistungen möglich sei. Der EuGH habe klargestellt, dass den Bietern vor Angebotsausschluss wegen eines ungewöhnlich niedrigen Angebotspreises die Möglichkeit zur weiteren Erläuterung der Seriosität ihres Angebots gegeben werden müsse (unter Berufung auf: EuGH, Urteil vom 29.03.2012, C-599/10).
Demgegenüber habe die Vergabestelle lediglich gefordert, dass die Bieter die Auskömmlichkeit ihrer Angebote bestätigen sollten. Diesbezüglich sei zunächst darauf hinzuweisen, dass die Unauskömmlichkeit eines Angebots nicht zwingend einen unangemessen niedrigen Angebotspreis zur Folge habe. Ebenso könne Unauskömmlichkeit und Unangemessenheit nicht gleichgesetzt werden.
So liege ein Angebot mit einem unangemessen niedrigen Preis vor, wenn es preislich deutlich vom ermittelten marktüblichen Preisniveau abweiche. Auf der anderen Seite sei ein Angebot unauskömmlich, wenn der betreffende Bieter – verkürzt gesagt – damit keinen Gewinn erzielen würde. Ein solches Angebot müsse aber nicht zwingend erheblich vom ermittelten marktüblichen Preisniveau abweichen. Denn bereits eine geringe Abweichung könne dazu führen, dass ein Gewinn ausbleibe und damit das Angebot insgesamt unauskömmlich, nicht aber unangemessen niedrig ist.
Eingedenk dieser Überlegungen vermöge die Abfrage der Auskömmlichkeitsbestätigung die Anforderungen an eine Preisaufklärung im Sinne des § 16d EU Abs. 1 Nr. 2 VOB/A nicht zu erfüllen. Für die Vergabestelle sei es anhand der mitgeteilten Information, das jeweilige Angebot sei auskömmlich oder nicht auskömmlich, nicht möglich, die Angebotspreise auf Unangemessenheit zu prüfen. Insoweit sei auch unbeachtlich, dass die Antragstellerin ihre Auskömmlichkeit nicht erklärt habe.
3. Vorliegen eines ungewöhnlichen Wagnisses
Schlussendlich bürde die Vergabestelle der Antragstellerin ein ungewöhnliches Wagnis auf und verletze somit das bieterschützende Gebot gemäß § 7 EU Abs. 1 Nr. 3 VOB/A.
Ausweislich dieser Vorschrift dürfe dem Auftragnehmer kein ungewöhnliches Wagnis aufgebürdet werden für Umstände und Ereignisse, auf die er keinen Einfluss habe und deren Einwirkung auf die Preise und Fristen er nicht im Voraus abschätzen könne.
Anders als in der VgV sei dieses Verbot weiterhin ausdrücklich in der EU VOB/A normiert. Zwar bedeute dies nicht, dass dem Auftragnehmer gar kein Wagnis auferlegt werden dürfe. Gewöhnliche Wagnisse, wie die Beschaffenheit und Finanzierbarkeit von Materialien oder Preis- und Kalkulationsrisiken, die dem Bieter in einem jeweiligen Marktsegment typischerweise obliegen würden, seien vertragstypisch und dem Rechtsverkehr nicht fremd. Sie würden gerade zum Wesen der Privatautonomie gehören und fielen nicht in den Anwendungsbereich des § 7 EU Abs. 1 Nr. 3 VOB/A.
Erst dann, wenn das aufgebürdete Wagnis über die üblichen Risiken hinausgehe, sich nicht abschätzen lasse und demzufolge eine Kalkulation unmöglich mache, könne gegen das Gebot des § 7 EU Abs. 1 Nr 3 VOB/A verstoßen werden. Unzumutbar sei eine kaufmännisch vernünftige Kalkulation, wenn Preis- und Kalkulationsrisiken über das Maß hinausgingen, das Bietern typischerweise obliegen würde.
Dabei sei unerheblich, ob sich das ungewöhnliche Wagnis nur in der Leistungsbeschreibung manifestiere. Die Regelung des § 7 EU Abs. 1 Nr. 3 VOB/A gelte gerade nicht nur für die Leistungsbeschreibung, sondern auch allgemein für die Vertragsverhandlungen und den Vertragsabschluss. Damit seien auch Risiken erfasst, die erst nach Zuschlagserteilung im Rahmen der Leistungserbringung entstehen könnten, in den Vergabeunterlagen jedoch schon begründet seien.
Die Regelung diene dem Schutz des Auftragnehmers vor unangemessenen Vertragsbedingungen. Deshalb sei die Vorschrift nicht eng, sondern eher weit auszulegen. Ob eine kaufmännisch vernünftige Kalkulation gemessen an diesen Maßstäben unzumutbar sei, bestimme sich nach dem Ergebnis einer Abwägung aller Interessen der Bieter beziehungsweise Auftragnehmer und des öffentlichen Auftraggebers im Einzelfall.
Vorliegend würden die Risiken aufgrund der im Zeitpunkt der Angebotsabgabe ausgebrochenen Kampfhandlungen im Rahmen der Preiskalkulation nicht mehr den typischen Wagnissen einer Angebotskalkulation im Vergabeverfahren entsprechen.
Dabei müsse das Interesse der Vergabestelle, an ihren Vergabeunterlagen festzuhalten und keinen kalkulatorischen Ausgleich zu schaffen, hinter dem Interesse der Antragstellerin an einer realistischen Angebotskalkulation zurücktreten. Insbesondere sei es der Vergabestelle möglich und zumutbar, dem Interesse der Antragstellerin an einer dem typischen Risiko unterliegenden Angebotskalkulation etwa durch die Vereinbarung von Stoffpreisgleitklauseln Rechnung zu tragen.
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III. Hinweise für die Praxis
Steht die Vergabe eines Bauauftrages an, sollten sich öffentliche Auftraggeber möglichst frühzeitig mit dem nicht gerade trivialen Thema der Stoffpreisgleitklausel auseinandersetzen. Zu dem „sperrigen“ Formblatt 225 des Vergabehandbuches des Bundes sind mittlerweile verschiedene Anwendungshilfen erschienen, deren Nutzung zu empfehlen ist. Andernfalls läuft der öffentliche Auftraggeber Gefahr, dass ‑ wie der vorstehende Beschluss zeigt ‑ des Vergabeverfahren erfolgreich angegriffen werden kann.
Mit der VOL/A 2009 wurde das Verbot des ungewöhnlichen Wagnisses aus der VOL/A gestrichen und befindet sich weder in der VgV noch in der UVgO. Teilweise wird vertreten, dass auch ohne explizite Verankerung eines entsprechenden gesetzlichen Verbots der Grundgedanke dort Anwendung findet. Das Verbot des ungewöhnlichen Wagnisses sei eine Ausprägung des allgemeinen Wettbewerbsgebotes und des Diskriminierungsverbotes. In der Rechtsprechung wird die Grenze nach wie vor in einer unzumutbaren Risikoverlagerung gesehen, die eine kaufmännisch vernünftige Kalkulation unmöglich macht – siehe zum Beispiel OLG Düsseldorf
- Beschluss v. 7.11.2012 – VII-Verg 24/12
- Beschluss v. 7.12.2011 – VII-Verg 96/11
- Beschluss v. 19.10.2011 – VII Verg 54/11
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