Mögliche Fallstricke bei der Vergabe an Inklusionsbetriebe beleuchtet ein aktueller Beschluss der Vergabekammer Westfalen.
Der Autor
Norbert Dippel ist Syndikus der cosinex sowie Rechtsanwalt für Vergaberecht und öffentliches Wirtschaftsrecht. Der Autor und Mitherausgeber diverser vergaberechtlicher Kommentare und Publikationen war viele Jahre als Leiter Recht und Vergabe sowie Prokurist eines Bundesunternehmens tätig.
Gesellschaftlich kann die Arbeit von Werkstätten und Einrichtungen für behinderte Menschen und von Inklusionsbetrieben nicht hoch genug geschätzt werden: Schließlich leisten sie für Menschen mit Beeinträchtigungen durch die Bereitstellung von Arbeitsplätzen einen wichtigen Beitrag zur Teilhabe und Integration.
Es ist deshalb durchaus gewünscht, diese Einrichtungen auch bei der Vergabe öffentlicher Aufträge zu berücksichtigen. Die Vergabekammer Westfalen (Beschluss vom 19.08.2022, VK 2 – 29 / 22) hatte unlängst über einen Fall zu entscheiden, bei dem das gewünschte politische Ziel leider aufgrund eines vergaberechtswidrigen Ansatzes nicht erreicht werden konnte.
I. Der Sachverhalt
Die Vergabestelle hat einen Auftrag zur Erbringung von VOB/A-Arbeiten im offenen Verfahren ausgeschrieben. Einziges Zuschlagskriterium war der Preis.
In der Bekanntmachung hat die Vergabestelle auf ihre Verpflichtung hingewiesen, Menschen mit Behinderung zu fördern. Deshalb sollte der bei der Angebotswertung von Inklusionsbetrieben angebotene Preis mit einem Abschlag von 15 % versehen werden.
Das Angebot des späteren Antragstellers lag preislich ohne diesen Abschlag vor dem Angebot der Beigeladenen. Nach Abzug der 15 % war das Angebot der Beigeladenen, einem Inklusionsbetrieb, erstplatziert.
Der Antragsteller hat die fiktive Herabsetzung des Wertungspreises der Beigeladenen gerügt und anschließend einen Nachprüfungsantrag gestellt.
II. Die Entscheidung
Die Vergabekammer hält den Nachprüfungsantrag für zulässig und begründet.
1. Zur Zulässigkeit: Vergabefehler nicht erkennbar
Hinsichtlich der Zulässigkeit prüfte die Vergabekammer zunächst, ob der vermeintliche Vergabefehler aufgrund der Bekanntmachung erkennbar war. Wäre dies der Fall gewesen, so wäre der Nachprüfungsantrag gemäß § 160 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 GWB unzulässig, weil derartige Fehler zwingend bis zum Ende der Angebotsfrist gerügt werden müssten.
Dabei führt die Vergabekammer aus, dass für die Erkennbarkeit der Empfängerhorizont eines durchschnittlich fachkundigen Bieters entscheidend sei. Dieser müsse den Vergabeverstoß bei Anwendung üblicher Sorgfalt und nach zumindest laienhafter rechtlicher Bewertung als solchen erkennen können. Dabei liege „Erkennen-Müssen“ vor, wenn der Vergabeverstoß so offensichtlich sei, dass er einem Bieter bei der Erstellung seines Angebots auffallen muss, ihm also sprichwörtlich ins Auge springt. Das sei nur dann der Fall, wenn der Bieter durch bloßes Lesen der einschlägigen Normen und einen Vergleich mit dem Text der Vergabeunterlagen den Vergabeverstoß ohne weiteres feststellen könne. Dabei sei allerdings keine umfassende Kenntnis der dem Verfahren zugrundeliegenden Vorschriften zu erwarten.
Vorliegend sei aufgrund der Bekanntmachung für einen objektiven Empfänger nur erkennbar, dass Inklusionsbetriebe einen Wertungsvorteil in Höhe von 15 % auf den Angebotspreis erhalten sollen. Nicht (offensichtlich) erkennbar sei die rechtliche Wertung, wonach diese Privilegierung möglicherweise eine nicht nach § 97 Abs. 1 Satz 2 GWB gebotene oder gestattete Ungleichbehandlung darstellt. Im Gegenteil erwecke insbesondere § 224 Abs. 1, 2. Hs. SGB IX, wonach „Werkstätten für behinderte Menschen […] beim Zuschlag und den Zuschlagskriterien bevorzugt werden“ könnten, den Eindruck, eine Ungleichbehandlung bei der Preiswertung eines Angebots zur Förderung von Inklusionsbetrieben sei möglich.
Damit sei der in Rede stehende Vergabefehler nicht erkennbar gewesen.
2. Zur Begründetheit: Nicht gestattete Ungleichbehandlung
Nach Ansicht der Vergabekammer verstößt die Privilegierung der Beigeladenen gegen § 97 Abs. 2 GWB. Die fiktive Herabsetzung des Wertungspreises der Beigeladenen stelle eine Ungleichbehandlung dar.
Diese Ungleichbehandlung sei nicht „aufgrund dieses Gesetzes“ (§ 97 Abs. 2 GWB) ausdrücklich geboten oder gestattet.
a. Nicht nach § 118 GWB
Die Vergabekammer prüfte zunächst § 118 GWB: Demnach könne ein öffentlicher Auftraggeber den Wettbewerb zum Schutz von geschützten Beschäftigungsverhältnissen einschränken, indem er das Recht zur Teilnahme am Wettbewerb Werkstätten für Menschen mit Behinderungen und vergleichbaren Unternehmen vorbehalte. Diese Bestimmung fände im vorliegenden Fall aber keine Anwendung, weil die Vergabestelle das Vergabeverfahren offen ausgestaltet und nicht auf bestimmte Unternehmen beschränkt habe.
b. Kein „sozialer Aspekt“
Die Ungleichbehandlung bei der Preiswertung sei weiterhin nicht als „sozialer Aspekt“ nach § 127 Abs. 1 Satz 4 GWB bzw. § 16 d EU Abs. 2 Nr. 1 Satz 4 VOB/A gestattet. Grundsätzlich sei die Förderung von Werkstätten für Menschen mit Behinderungen und von Inklusionsbetrieben ein sozialer Aspekt im Sinne der vorgenannten Regelungen. Dieser Aspekt könne nur zur Ermittlung des besten Preis-Leistungs-Verhältnisses berücksichtigt werden.
Dazu müssten „neben dem Preis oder den Kosten auch […] soziale Aspekte“ als Zuschlagskriterien berücksichtigt werden. Vorliegend sei der Preis allerdings einziges Zuschlagskriterium. Die rein interne Berechnung ändere an dem wirtschaftlicheren Preis des Antragstellers nichts. Im Übrigen berücksichtige die Vergabestelle den Aspekt „Förderung von Arbeitgebern von Menschen mit Behinderungen“ nicht neben dem Preis als Zuschlagskriterium, sondern im Preis selbst.
c. Nicht nach SGB IX
Aus Sicht der Vergabekammer liegt auch darüber hinaus keine „aufgrund dieses Gesetzes ausdrücklich“ gebotene oder gestattete weitere Ausnahme vor.
Insbesondere stelle der von der Antragsgegnerin in Bezug genommene § 224 Abs.1, Satz 1, 2. Halbsatz SGB IX keine entsprechende Ausnahme im Anwendungsbereich des GWB dar, weil er lediglich eine Verordnungsermächtigung der Bundesregierung enthalte. Die Ausgestaltung der Zuschlagsprivilegierung stehe nach dem ausdrücklichen Wortlaut nicht im Ermessen des öffentlichen Auftraggebers, sondern ergebe sich aus einem Verweis auf die „Maßgaben der allgemeinen Verwaltungsvorschriften nach Satz 2“. Ausdrücklich verweist die Vergabekammer darauf, dass auf dieser Grundlage noch keine allgemeine Verwaltungsvorschrift erlassen worden sei. Es existiere lediglich ein entsprechender Referentenentwurf, dem keine Rechtskraft zukomme.
d. Nicht nach der Bevorzugtenrichtlinie
Weiterhin fänden die „Richtlinie für die Berücksichtigung von Werkstätten für Behinderte und Blindenwerkstätten bei der Vergabe öffentlicher Aufträge“ vom 10. Mai 2001 (sog. Bevorzugtenrichtlinie) und der von der Vergabestelle in Bezug genommene „gemeinsame Runderlass des Ministeriums für Wirtschaft, Innovation, Digitalisierung und Energie, des Ministeriums für Arbeit, Gesundheit und Soziales, des Ministeriums für Heimat, Kommunales, Bau und Gleichstellung und des Ministeriums der Finanzen vom 29. Dezember 2017 zur Berücksichtigung von Werkstätten für behinderte Menschen und von Inklusionsbetrieben bei der Vergabe öffentlicher Aufträge“ keine Anwendung. Beide gelten nur für nationale Verfahren.
3. Verstoß gegen das Transparenzprinzip
Nach Ansicht der Vergabekammer verletzt die vorgesehene Einbeziehung eines qualitativen Zuschlagskriteriums in die Preiswertung die Bieter in ihrem Anspruch auf ein transparent geführtes Vergabeverfahren nach § 97 Abs. 1 Satz 1 GWB.
Dabei führt die Vergabekammer zunächst die Grundsätze zu den rechtlich zulässigen Wertungskriterien wie folgt aus: Grundsätzlich bestimme der öffentliche Auftraggeber, unter welchen Bedingungen ein Angebot wirtschaftlich sei. Er könne entscheiden, ob allein der Preis oder der Preis im Verhältnis zur angebotenen Leistung für den Zuschlag maßgeblich sein soll und wie er die Zuschlagskriterien gewichten möchte.
Insoweit könne er auch „leistungsfremde“ Anforderungen bewerten, soweit diese Kriterien unter anderem Auftragsbezug hätten, ihm keine unbeschränkte Entscheidungsfreiheit einräumen würden und zu keiner Diskriminierung führten. Insbesondere zum Schutz vor Diskriminierung verpflichte ihn der Transparenzgrundsatz gleichzeitig zu einem offenen und erkennbaren, also nachvollziehbaren Beschaffungsverhalten.
Das Verfahren zum Vergleich der Angebote müsse für alle Bieter derart aufgestellt sein, dass diese bei der Aufstellung ihrer Angebote über dieselben Chancen verfügten. In Bezug auf die Anforderungen an die Zuschlagsentscheidung bedeute das, dass alle potentiellen Bieter zum Zeitpunkt der Vorbereitung ihrer Angebote die Kriterien, die der Auftraggeber bei der Zuschlagsentscheidung berücksichtigt, und ihre relative Bedeutung im Rahmen der Wertung erkennen können müssen.
Dies sei bei dem vorliegenden Wertungssystem nicht der Fall. Knüpfe der Auftraggeber den Wertungsvorteil an den Preis eines privilegierten Bieters, könnten nicht privilegierte Bieter die Höhe des Vorteils nicht erkennen. Anknüpfungspunkt des Wertungsvorteils sei nämlich die Kalkulation eines Mitbewerbers, in die der nicht privilegierte Bieter keinen Einblick haben könne. Damit könne er nicht erkennen, ob sich die Teilnahme am Wettbewerb überhaupt lohne, oder der Wertungsvorteil derart hoch sei, dass sich dieser für die avisierte Zuschlagserteilung allein durch den Preis nicht ausgleichen lasse.
Das sei anders, wenn der Auftraggeber die Eigenschaft als Werkstatt für Menschen mit Behinderungen beziehungsweise Inklusionsbetrieb als weiteres Zuschlagskriterium neben dem Preis in die Wertung stelle. Dann könnte auch ein nicht privilegierter Bieter erkennen, wie hoch oder gering seine Chance auf den angestrebten Zuschlag sei, wenn ein privilegierter Bieter am Vergabeverfahren teilnehme.
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III. Hinweise für die Praxis
Die vorstehende Entscheidung zeigt einmal mehr, dass für die grundlegende Konzeption eines Vergabeverfahrens ein erhebliches Maß an vergaberechtlicher Kenntnis erforderlich ist.
So scheint der ursprüngliche Ansatz der Vergabestelle zunächst praktikabel und nachvollziehbar. Erst bei einem tiefen Verständnis von der Geltung des Transparenzprinzips bei der Aufstellung von Wertungskriterien offenbaren sich die vergaberechtlichen Bedenken.
Im Oberschwellenbereich sind die beiden oben zitierten Richtlinien nicht anwendbar. Wünschenswert wäre daher, würde der Verordnungsgeber des Bundes diese Lücke schließen. So wäre dem Ziel der Bevorzugung von Einrichtungen für behinderte Menschen gedient und Vergabestellen würden Handlungssicherheit erlangen.
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