Im ersten Beitrag unserer Reihe zum Schadensersatz hatten wir die Anspruchsvoraussetzungen des „kleinen Schadensersatzes“ gemäß § 181 Satz 1 GWB dargestellt.
Der Autor
Norbert Dippel ist Syndikus der cosinex sowie Rechtsanwalt für Vergaberecht und öffentliches Wirtschaftsrecht. Der Autor und Mitherausgeber diverser vergaberechtlicher Kommentare und Publikationen war viele Jahre als Leiter Recht und Vergabe sowie Prokurist eines Bundesunternehmens tätig.
In Satz zwei dieser Bestimmung wird betont, dass weiterreichende Ansprüche auf Schadensersatz unberührt bleiben. Damit können neben dem Schadensersatzanspruch aus § 181 Satz 1 GWB sämtliche übrigen Schadensersatzansprüche geltend gemacht werden. Zu diesen Schadensersatzansprüchen gehören:
- Culpa in contrahendo (c.i.c.), §§ 280 Abs. 1, 311 Abs. 2, 241 Abs. 2 BGB,
- Ansprüche aus unerlaubter Handlung und wegen Verstoßes gegen Schutzgesetze, § 823 Abs. 1, Abs. 2 BGB i.V.m. Schutzgesetz und
- Ansprüche aus Amtshaftung, § 839 BGB i.V.m. Art. 34 GG.
Da die beiden letztgenannten Anspruchsgrundlagen in der Praxis eine untergeordnete Rolle spielen, stellen wir nachfolgend lediglich die erstgenannte Konstellation dar, nämlich die Haftung aus c.i.c.
Im Unterschied zu dem kleinen Schadensersatz gemäß § 181 Satz 1 GWB ist dieser Anspruch auf den sogenannten „großen Schadensersatz“ gerichtet. Außerdem greift die Haftung aus c.i.c. auch im Unterschwellenvergaberecht.
Aus hiesiger Sicht nimmt die Relevanz dieser Anspruchsgrundlage in der Praxis deutlich zu.
I. Rechtlicher Grundgedanke
Schadensersatzansprüche können nach den Regeln der culpa in contrahendo (§§ 280 Abs. 1, 311 Abs. 2, 241 Abs. 2 BGB) geltend gemacht werden, wenn der Auftraggeber im Rahmen eines Vergabeverfahrens gegen Verfahrensvorschriften verstößt. Ausgangspunkt dieser Anspruchsgrundlage ist der Gedanke, dass sich ein Bieter nur an einem Vergabeverfahren beteiligt, wenn er darauf vertrauen darf, dass sich der öffentliche Auftraggeber an die vergaberechtlichen Vorgaben hält. Unjuristisch gesprochen ist dies die Geschäftsgrundlage dafür, dass der Bieter eine Investition tätigt, nämlich die Teilnahme an dem Vergabeverfahren.
Verstößt der öffentliche Auftraggeber gegen die ihm zwingend vorgegebenen vergaberechtlichen Regelungen, erweist sich die Teilnahme an diesem Vergabeverfahren für den Bieter als wertlos und ihm steht deshalb ein Schadensersatzanspruch zu. Dieser kann sich auf den Ersatz der Angebotserstellungskosten richten (kleiner Schadensersatz), wenn der Auftrag tatsächlich nicht vergeben wurde (wobei das Problem besteht, dass die Angebotserstellungskosten nur für den bestplatzierten Bieter ein Schaden sind, da sie die unterlegenen Bieter ohnehin nicht ersetzt bekommen hätten).
Für den Fall, dass der Auftrag tatsächlich erteilt wurde, darf der Bieter darauf vertrauen, dass dies entsprechend den vergaberechtlichen Bestimmungen geschieht. Wird der vergaberechtlich zwingende Zuschlagskandidat übergangen und der Auftrag einem schlechter platzierten Bieter erteilt, steht dem rechtlich eindeutigen Zuschlagskandidaten der große Schadensersatz zu: Er muss wirtschaftlich so gestellt werden, wie er stünde, wenn ihm der Auftrag erteilt worden wäre, etwa mit Blick auf den entgangenen Gewinn oder den Ersatz entstandener Rechtsverfolgungskosten.
II. Die Anspruchsgrundlagen im Einzelnen
Zunächst setzt der Schadensersatzanspruch aus c.i.c. das Bestehen eines vorvertraglichen Vertrauensverhältnisses (§ 311 Abs. 2 BGB) voraus. Es entsteht grundsätzlich durch die Anforderung der Ausschreibungsunterlagen durch die Bieter beziehungsweise durch die Aufnahme von Vertragsverhandlungen.
Im EU-Vergaberecht ist die Vergabestelle gesetzlich zur Anwendung der Vergabebestimmungen verpflichtet, weshalb Bieter in einem entsprechenden Vergabeverfahren auf die Einhaltung vertrauen können. Unterhalb der Schwellenwerte fehlt dieser spezialgesetzliche Anwendungsbefehl. Deshalb kann sich der Bieter nur dann auf ein schützenswertes Vertrauen auf die Einhaltung der Vergabestimmungen berufen, wenn sich der Auftraggeber der jeweiligen Vergabe- und Vertragsordnung ausdrücklich unterworfen hat. Dies ist beispielsweise der Fall, wenn der Auftraggeber in einer Ausschreibung die Einhaltung bestimmter Regeln bei der Auftragsvergabe – insbesondere der VOB/A – kommuniziert.
1. Pflichtverletzung
Weitere Voraussetzung ist, dass der Auftraggeber eine ihm aus dem vorvertraglichen Vertrauensverhältnis obliegende Pflicht objektiv verletzt. Hat der Auftraggeber durch seine Ausschreibung oder seine Aufforderung zur Angebotsabgabe zu erkennen gegeben, dass er den Auftrag entsprechend den Vergabeordnungen vergibt, begründet sein Verstoß gegen die vergaberechtlichen Bestimmungen regelmäßig eine Pflichtverletzung.
Das Feld ist dabei weit: Es reicht von der Abweichung von in der Bekanntmachung veröffentlichten Wertungskriterien über die Zulassung eigentlich auszuschließender Unternehmen bis hin zur Verletzung von Mitteilungspflichten im Rahmen von Bieterfragen oder Rügen.
2. Verschulden
Ob der in Rede stehende Schadensersatzanspruch ein Verschulden des öffentlichen Auftraggebers oder der Vergabestelle voraussetzt, ist umstritten.
Zum Teil wird dies unter Hinweis auf § 280 Abs. 1 Satz 2 BGB bejaht, wonach der Gläubiger trotz einer Pflichtverletzung durch den Schuldner keinen Ersatz verlangen könne, wenn der Schuldner die Pflichtverletzung nicht zu vertreten hat. Gemäß § 276 Abs. 1 BGB hat er grundsätzlich Vorsatz und Fahrlässigkeit zu vertreten.
Dieser Ansatz verkennt allerdings, dass der europäische Gerichtshof auf der Grundlage der Rechtsmittelrichtlinie 89/665/EWG unmissverständlich klargestellt hat, dass der Anspruch des Bieters auf Ersatz eines Schadens, der ihm durch den Verstoß eines öffentlichen Auftraggebers gegen vergaberechtliche Vorschriften entstanden ist, nicht von dessen Verschulden abhängig sein darf.
Zur Begründung hat der EuGH Art. 2 Abs. 1 lit. c der Rechtsmittelrichtlinie herangezogen. Dieser enthalte keine Anhaltspunkte dafür, dass die Zuerkennung von Schadensersatz wegen Vergabeverstößen ein Verschulden des öffentlichen Auftraggebers voraussetze. Dementsprechend würden nationale Vorschriften, die einen Anspruch auf Schadensersatz von einem Verschulden des Auftraggebers abhängig machen, gegen die Rechtsmittelrichtlinie verstoßen (EuGH v. 30.09.2010, C-314/09 Rz. 39 ff.).
Im Oberschwellenbereich sind die in Rede stehenden Voraussetzungen des Schadensersatzes richtlinienkonform so auszulegen, dass der Schadensersatzanspruch wegen Vergabeverstößen kein Verschulden voraussetzt.
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3. Kausale Verursachung des Schadens
Weitere Anspruchsvoraussetzung ist, dass durch die schuldhafte Pflichtverletzung ein Schaden verursacht worden sein muss. Dabei ist wie folgt zu differenzieren:
a. Erstrangiger Bieter
Der erstrangige Bieter ist derjenige, der bei einem regelkonformen Vergabeverfahren den Zuschlag hätte erhalten müssen. Für ihn liegt der Schaden in dem Verlust des entgangenen Auftrages. Er hat somit einen Anspruch auf Ersatz des positiven Interesses, er muss also wirtschaftlich so gestellt werden, als hätte er den Auftrag erhalten.
Dieser Anspruch ist jedoch an zwei weitere Voraussetzungen geknüpft.
Zum einen muss der Bieter darlegen und beweisen können, dass ihm der Zuschlag ohne den Vergabeverstoß mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit hätte erteilt werden müssen.
Weiterhin muss der Auftrag vom Auftraggeber auch tatsächlich vergeben worden sein. Unproblematisch liegt diese Voraussetzung vor, wenn es sich um ein durchgängiges Vergabeverfahren handelt, das mit dem Zuschlag beendet wurde. In dem Fall muss der später vergebene Auftrag bei der gebotenen wirtschaftlichen Betrachtungsweise das gleiche Vorhaben und den gleichen Auftragsgegenstand betreffen. Die Auftragsvergabe muss überdies wertungsmäßig als Zuschlag im ersten Vergabeverfahren an einen in diesem Verfahren nicht zuschlagsberechtigten Bieter anzusehen sein.
Im Falle der rechtswidrigen Aufhebung des Vergabeverfahrens ist wie folgt zu unterscheiden:
- Wurde der ursprüngliche Auftrag nach der Aufhebung tatsächlich vergeben, kann der in dem ursprünglichen Vergabeverfahren erstplatzierte Bieter den Anspruch auf Ersatz des positiven Interesses geltend machen. Die Identität zwischen dem ursprünglichen Auftrag (des aufgehobenen Vergabeverfahrens) und dem vergebenen Auftrag bestimmt sich dabei nach wirtschaftlichen Gesichtspunkten.
- Ein Sonderfall liegt vor, wenn die Ausschreibung zunächst aufgehoben wurde, weil man zu dem damaligen Zeitpunkt tatsächlich davon ausgegangen ist, dass der Beschaffungsbedarf entfallen ist. Wird dieser Auftrag später aufgrund einer neuen Sachlage erneut ausgeschrieben und kann sich der erstplatzierte Bieter aus dem ursprünglichen Vergabeverfahren daran beteiligen, verfügt dieser über keinen Schadensersatzanspruch (siehe hierzu unser Beitrag BGH grenzt großen Schadensersatz bei Vergabefehlern ein).
- Wurde der Auftrag in der Folgezeit nicht vergeben, kann der Unternehmer lediglich das negative Interesse geltend machen.
Diese Differenzierung ist vor dem Hintergrund zu sehen, dass der Bieter grundsätzlich keinen Anspruch auf Zuschlagserteilung hat. Besteht kein Anspruch auf Zuschlagserteilung, so kann auch kein Vertrauen auf den Zuschlag enttäuscht werden. Wurde der Auftrag tatsächlich nicht vergeben, so kann folglich auch kein Anspruch bestehen, so gestellt zu werden, als wäre der Zuschlag an den Schadensersatz begehrenden Bieter erteilt worden. Lediglich ausnahmsweise steht in diesem Fall dem erstplatzierten Bieter ein Anspruch auf Ersatz des negativen Interesses zu.
In dem vorstehend beschriebenen Sonderfall der Aufhebung und erneuten Ausschreibung sah der BGH keine Anhaltspunkte dafür, dass die Auftragsvergabe in dem zweiten Vergabeverfahren wertungsmäßig einem rechtswidrigen Zuschlag an einen anderen Bieter als den Zuschlagskandidaten des ersten Vergabeverfahrens gleichzusetzen wäre. Grund hierfür sei, dass die Aufhebung des ersten Vergabeverfahrens auf sachlichen Gründen beruhte und die Bezuschlagung im Rahmen des zweiten Vergabeverfahrens auf sachlichen und willkürfreien Erwägungen beruht hat.
b. Nachrangige Bieter
In den Fällen, in denen der Auftrag tatsächlich vergeben wurde, steht den weiteren nachrangigen Bietern kein Schadensersatzanspruch aus c.i.c. zu. Bei ihnen hat sich das allgemeine Risiko realisiert, das jede Teilnahme an einem Vergabeverfahren in sich birgt: Wird das Angebot nicht berücksichtigt, wurden die Angebotskosten nutzlos aufgewendet.
Ein Sonderfall liegt dann vor, wenn im laufenden Vergabeverfahren von dem Auftraggeber die Ausschreibung aufgehoben wird, ohne dass ein rechtskonformer Aufhebungsgrund vorliegt (zum Beispiel keine haushaltsmäßige Deckung). In diesem Fall hätte der Auftrag nie ausgeschrieben werden dürfen, sodass sämtliche Bieter auch nie ein Angebot im Vertrauen auf eine Zuschlagschance abgegeben hätten. Da diese Chance von vornherein nicht bestand, haben auch die nachrangig platzierten Bieter einen Anspruch auf Ersatz der Angebotskosten. Wurde die Ausschreibung rechtmäßig aufgehoben, entfällt jeglicher Ersatzanspruch.
4. Umfang des Schadensersatzes
Steht dem Bieter beziehungsweise Bewerber ein Anspruch auf Ersatz des positiven Interesses zu, ist er wirtschaftlich so zu stellen, wie er stünde, wenn er den Auftrag erhalten hätte. Dies umfasst nicht nur den entgangenen Gewinn. Vielmehr hat er grundsätzlich auch einen Anspruch auf Vergütung der von ihm in Ansatz gebrachten Deckungsbeiträge. Letztlich muss er sich von der vereinbarten Vergütung die nicht angefallenen Aufwendungen für Material, Betriebsmittel, Unteraufträge etc. anrechnen lassen. Sollten in der ursprünglich geplanten Ausführungszeit andere Aufträge angenommen worden sein, so können selbstverständlich die Ressourcen nicht gleichzeitig als „Schaden“ geltend gemacht werden.
III. Hinweise für die Praxis
Aus hiesiger Sicht liegt mittlerweile regelmäßig die größte (wirtschaftliche) Gefahr bei öffentlichen Ausschreibungen im Ober- wie auch im Unterschwellenbereich nicht in den mit einem Nachprüfungsverfahren verbundenen Kosten, Verzögerungen etc., sondern vielmehr in qualifizierten Schadensersatzansprüchen unterlegener Bieter im Wege des regulären Rechtsschutzes. Auch die zunehmenden Fälle in der richterlichen Spruchpraxis deuten darauf hin, dass auch die Fälle rund um den großen Schadensersatz zunehmen.
Öffentliche Auftraggeber sollten sich bewusst sein, dass abgeschlossene Fälle mitunter Jahre später als Schadensersatzklagen wieder „aufleben“. Dann sind die Güte des durchgeführten Vergabeverfahrens sowie die Dokumentation entscheidend.
Bieter sollten sich zumindest darüber bewusst sein, dass ihnen möglicherweise Schadensersatzansprüche zustehen. Auch hier kommt es hinsichtlich der Beweislast auf die Dokumentation etwaiger Vergabefehler an. Denn letztlich muss der Bieter belegen, dass ihm ohne den vermeintlichen Vergabefehler zwingend der Zuschlag hätte erteilt werden müssen.
Es zeichnet sich ab, dass die Schadensersatzproblematik zu einer weiteren Verrechtlichung der Vergabeverfahren führt. Diese Entwicklung kann man durchaus kritisch sehen, sie ist aber letztlich Ausdruck unseres Rechtsstaates sowie Ausdruck unserer Wirtschaftsordnung. Denn Schadensersatzansprüche basieren auf dem Grundsatz, dass Bieter und öffentliche Auftraggeber bei der Durchführung von Vergabeverfahren Rechte und Pflichten haben, die auch Verantwortlichkeiten begründen.
IV. Vergabesymposium 2023: Vortrag von Prof. Dr. Wolfgang Kirchhoff zum Schadensersatz
Das Thema Schadensersatz im Vergaberecht wird auch ein Schwerpunkt auf dem Vergabesymposium 2023 sein, das am 6. und 7. Juni in Bochum stattfindet: Prof. Dr. Wolfgang Kirchhoff, Vorsitzender Richter am Bundesgerichtshof, wird Teilnehmern in seinem Vortrag fachkundige Einblicke in die aktuelle Rechtsprechung des BGH liefern.
Die Anmeldung zum Vergabesymposium 2023 ist bereits möglich, auch die Agenda steht in weiten Teilen.
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