Unsere Abhängigkeit von den globalen Lieferketten ist erheblich. Das hat bereits die Corona-Krise gezeigt und der Krieg in der Ukraine führt es besonders schmerzhaft vor Augen. Öffentliche Auftraggeber suchen aus guten Gründen Wege, um die daraus folgenden Risiken zu minimieren.
Dabei stellt sich die Frage, ob es zulässig wäre, einen Wirtschaftlichkeitsbonus für den Nachweis einer geschlossenen Lieferkette in der Europäischen Union, in den GPA-Unterzeichnerstaaten und in der Freihandelszone der Europäischen Union zu gewähren. Hierzu hat der Vergabesenat bei dem OLG Düsseldorf in einem kürzlich veröffentlichten Beschluss (vom 01.12.2021, VII – Verg 55 / 20) Stellung genommen.
I. Der Sachverhalt
Der Auftraggeber schreibt im offenen Verfahren Rabattverträge für Arzneimittel im generischen Markt EU-weit aus. Der Preis ist nicht das einzige Zuschlagskriterium. Daneben sollen auch qualitative, umweltbezogene und soziale Aspekte berücksichtigt werden – so etwa Wirtschaftlichkeitsboni unter anderem für den Nachweis einer geschlossenen Lieferkette in der Europäischen Union, in den GPA-Unterzeichnerstaaten (Übereinkommen über das öffentliche Beschaffungswesen, Government Procurement Agreement) beziehungsweise in der Freihandelszone der Europäischen Union.
Der Nachweis der kompletten Produktion in den vorbenannten Gebieten soll zu einer Erhöhung der Gesamtwirtschaftlichkeitsmaßzahl um acht Prozent führen. Das Zuschlagskriterium wird als „vollständig geschlossene EU-Lieferkette“ bezeichnet.
Die in Indien produzierende Antragstellerin hält das Lieferkettenkriterium für vergaberechtswidrig. Nach erfolgloser Rüge stellt sie einen Nachprüfungsantrag. Die Vergabekammer des Bundes hält das Zuschlagskriterium für vergaberechtswidrig.
Hiergegen wendet sich der Auftraggeber mit einer sofortigen Beschwerde an den Vergabesenat des OLG Düsseldorf.
II. Die Entscheidung
Der Vergabesenat bei dem OLG Düsseldorf schließt sich der Entscheidung der Vergabekammer des Bundes an und hält das Lieferkettenkriterium für vergaberechtswidrig, weil es gegen den Grundsatz der Gleichbehandlung der Bieter und gegen das Erfordernis objektiver Zuschlagskriterien verstoße.
1. Verstoß gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz
Nach Ansicht des Vergabesenats gebietet der Grundsatz der Gleichbehandlung der Bieter deren Chancengleichheit bei der Abfassung ihrer Angebote. Deshalb begegne eine Differenzierung nach Herkunftsstaaten der Bieter grundlegenden Bedenken, weil diese Bieter nicht den gleichen Bedingungen unterworfen seien.
a. Keine rechtliche Erlaubnis der Differenzierung nach Herkunft
§ 97 Abs. 2 GWB enthalte den Grundsatz, dass jede Ungleichbehandlung eines Teilnehmers am Vergabeverfahren verboten sei, soweit diese nicht ausdrücklich gesetzlich gestattet sei. Dabei handele es sich um die Normierung eines generellen Verbots mit einem allein dem Gesetzgeber vorbehaltenen Erlaubnisvorbehalt.
Eine Ungleichbehandlung allein wegen des Herkunftsstaates würden – von nicht einschlägigen Ausnahmen abgesehen – weder das Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen noch die für dessen Auslegung relevanten europäischen Richtlinien gestatten.
Dementsprechend fehle es an einer entsprechenden Verordnung, die die Beteiligung von Unternehmen aus Drittstaaten begrenze. Bis zu deren Erlass bleibe es aber dabei, dass sich jedes interessierte Unternehmen unabhängig etwaiger geographischer Einschränkungen an einem EU-Vergabeverfahren beteiligen könne – und zwar ohne Verweigerung des Wirtschaftlichkeitsbonus.
b. Kein Mittel zur Erreichung europäischer Umwelt- und Sozialstandards
Auch könne die Gewährung des Wirtschaftlichkeitsbonus nicht als Mittel zur Erreichung europäischer Umwelt- und Sozialstandards gerechtfertigt werden. Zwar könnten gemäß § 127 Abs. 1 Satz 4 GWB, § 58 Abs. 2 VgV bei der Ermittlung des wirtschaftlichsten Angebots auch qualitative, umweltbezogene oder soziale Aspekte berücksichtigt werden.
Vorliegend erschließt sich aber allenfalls mittelbar, dass auch im Übrigen mit den in der Europäischen Union geltenden vergleichbare Umwelt- und Sozialstandards angestrebt und mit dem streitgegenständlichen Wirtschaftlichkeitsbonus honoriert werden sollen.
Insoweit könne bereits fraglich sein, ob der Auftraggeber die genannten Kriterien überhaupt hinreichend bestimmt formuliert habe. Letztlich könne dies aber dahinstehen, da das Lieferkettenkriterium wegen der Heterogenität der privilegierten Staatengruppen zur Gewährleistung dieser Standards ohnehin ungeeignet sei.
c. Kein Mittel zur Erhöhung der Versorgungssicherheit
Schließlich könne das Lieferkettenkriterium auch nicht als Mittel zur Erhöhung der Versorgungssicherheit gerechtfertigt werden, weil die damit einhergehende Schlechterstellung von in Drittstaaten produzierenden Bietern unangemessen sei.
Zwar sei auch die Versorgungssicherheit ein sozialer Aspekt, dessen Berücksichtigung folglich nach § 97 Abs. 2 i.V.m. § 127 Abs. 1 GWB mit dem Gleichbehandlungsgrundsatz in Einklang stehe. Soweit dies zur Erreichung des angestrebten Ziels angemessen sei, könne die Ausschreibung daher Anforderungen an den Produktionsort definieren.
Diese Vorgabe müsse allerdings als zur Erreichung des angestrebten Ziels geeignet erscheinen. Dieser Anforderung genüge das undifferenziert die Gesamtheit der Mitgliedsstaaten der Europäischen Gemeinschaft, die GPA-Unterzeichnerstaaten und die Staaten der Freihandelszone der Europäischen Union privilegierende Lieferkettenkriterium nicht.
Die von der Antragsgegnerin für sich reklamierte typisierende Betrachtung würde voraussetzen, dass bei der Produktion in den vorgenannten Staaten die Sicherheit der Versorgung mit den ausgeschriebenen Arzneimitteln typischerweise, also bei der weit überwiegenden Zahl der Staaten in höherem Maße gewährleistet wäre, als bei einer Herstellung in für die Arzneimittelproduktion typischen Drittstaaten wie Indien oder China.
Derartiges habe aber weder der Auftraggeber dargetan, noch sei dies sonst zu erkennen. Auch ein verkehrstechnischer Vorteil sei nicht gegeben. Die zu diesen Staatengruppen gehörenden Länder wie Taiwan, Peru oder Südafrika seien von den Versorgungsorten weiter entfernt und jedenfalls teilweise verkehrstechnisch mit diesen schlechter vernetzt als bedeutende Arzneimittelerzeugerdrittstaaten wie China und Indien.
Schließlich könne das Lieferkettenkriterium sogar zu einer Gefährdung der Versorgungssicherheit führen. Es bestünde die Gefahr, dass Beschränkungen ein und desselben GPA-Unterzeichnerstaats oder Staats der Freihandelszone der Europäischen Union, beispielsweise des bedeutenden Wirkstoffproduzenten Taiwan, zum Ausfall von Lieferanten führen.
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2. Mildere Mittel als „Lieferkettenkriterium“ verfügbar
Auch wenn es in Ermangelung schon der Geeignetheit letztendlich nicht darauf ankomme, stünde einer Verhältnismäßigkeit des Lieferkettenkriteriums zudem entgegen, dass mildere Mittel als die pauschale Privilegierung aller in Drittstaaten produzierenden Bieter existieren würden. So könnte der Auftraggeber den Bietern eine versorgungsortnahe Lagerhaltung vorgeben oder eine solche durch einen Wirtschaftlichkeitsbonus privilegieren.
3. Lieferkette kein objektives Zuschlagskriterium
Zunächst stellte der Vergabesenat die Grundsätze dar: Nach § 127 Abs. 4 Satz 1 GWB müssten die Zuschlagskriterien so festgelegt und bestimmt sein, dass die Möglichkeit eines wirksamen Wettbewerbs gewährleistet werde, der Zuschlag nicht willkürlich erteilt werden könne und eine wirksame Überprüfung möglich sei, ob und inwieweit die Angebote die Zuschlagskriterien erfüllten.
Dies setze eine Vergabe aufgrund objektiver Zuschlagskriterien voraus, was gewährleiste, dass der Vergleich und die Bewertung der Angebote in objektiver Weise erfolgen und somit unter Bedingungen eines wirksamen, objektiven Vergleichs des relativen Werts der Angebote.
Daran gemessen, würde eine Differenzierung nach Produktionsstaaten für sich genommen kein zulässiges Zuschlagskriterium darstellen, da die in die Bevorzugung einbezogene Staatengruppe viel zu heterogen sei. Beispielsweise sei nicht ersichtlich, dass Staaten wie Armenien, Algerien, Ägypten, Jordanien, Libanon, Marokko, Chile, Kolumbien, Guatemala oder Tunesien vergleichbare Umwelt- und Sozialstandards gewährleisten würden wie die Mitgliedsstaaten der Europäischen Union.
Den GPA-Unterzeichnerstaaten und den Staaten der Freihandelszone der Europäischen Union im Rahmen einer „typisierenden Betrachtung“ gleichwohl die Einhaltung von mit denen der Europäischen Union vergleichbaren Umwelt- und Sozialstandards zu attestieren, würde dem Erfordernis eines objektiven Zuschlagskriteriums zur Vermeidung willkürlicher Zuschlagsentscheidung nicht gerecht.
Es erschließe sich auch nicht, weshalb etwa bei einem in Hongkong ansässigen Produzenten die Versorgung in höherem Maße gesichert sein soll als bei einem in China ansässigen, oder weshalb der vor dem Zerfall staatlicher Strukturen stehende Libanon die Belieferung mit Medikamenten eher gewährleiste als Indien.
III. Hinweise für die Praxis
Der vorstehend wiedergegebene Beschluss des Vergabesenats bei dem OLG Düsseldorf zeigt einmal mehr das grundlegende Dilemma der Vergabepraxis auf: Letztlich gibt die Politik den regulatorischen Rahmen vor, in dem sich der Einkäufer bewegen muss. Wird dieser Rahmen den (vermeintlichen) Erfordernissen nicht angepasst, sind dem Beschaffer die Hände gebunden.
Dabei mangelt es nicht an Politikern, die glasklar analysieren, dass beispielsweise im Arzneimittelbereich eine Europäisierung von Kapazitäten oder ein Vorhalt von (Kern)Kapazitäten notwendig ist. Gleiches gilt für die Produktion von Chips und anderen Elektronikbauteilen.
Wenn politische Analyse und Anpassung des regulatorischen Rahmens auseinanderfallen, legt das den Verdacht eines Umsetzungsdefizits nahe, für den die Politik verantwortlich ist. Die im Zuge des Ukraine-Krieges bemühte „Zeitenwende“ könnte vielleicht auch in diesem Bereich zu Aktivitäten führen.
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Titelbild: CHUTTERSNAP – Unsplash