In der täglichen Arbeit wird die Entscheidung, Nachweise nicht nachzufordern, mitunter nur rudimentär begründet. Warum dies zu beträchtlichen Verzögerungen im Vergabeverfahren führen kann, erläutert der Fachanwalt für Vergaberecht und Syndikus der cosinex Norbert Dippel in dieser Beschlussbesprechung.
Der Autor
Norbert Dippel ist Syndikus der cosinex sowie Rechtsanwalt für Vergaberecht und öffentliches Wirtschaftsrecht. Der Autor und Mitherausgeber diverser vergaberechtlicher Kommentare und Publikationen war viele Jahre als Leiter Recht und Vergabe sowie Prokurist eines Bundesunternehmens tätig.
Sieht der öffentliche Auftraggeber davon ab, in der Auftragsbekanntmachung oder den Vergabeunterlagen festzulegen, dass Unterlagen nicht nachgefordert werden (§ 56 Abs. 2 Satz 2 VgV), kann er sie nachfordern. Eine Nachforderung steht grundsätzlich im Ermessen des Auftraggebers. Wer die Nachforderung unterlässt und die Gründe hierfür nicht hinreichend dokumentiert, kann einen schweren Vergabefehler begehen.
Der Vergabesenat bei dem OLG Frankfurt a.M. hat in einem kürzlich ergangenen Beschluss (25.11.2021, 11 Verg 2 / 21) unter Rückgriff auf die allgemeinen verwaltungsrechtlichen Vorgaben wichtige Hinweise gegeben, wie dieses Ermessen ausgeübt werden muss und was die Rechtsfolgen einer fehlerhaften Ermessensausübung sein können.
I. Der Sachverhalt
Im Rahmen eines EU-weiten offenen Vergabeverfahrens hat u.a. eine Bieterin ein Angebot abgegeben. Nach deren Eignungsprüfung wurde das Vergabeverfahren aufgehoben, weil die Angebote erheblich über der Kostenschätzung lagen und teilweise der Leistungsbeschreibung nicht entsprachen.
1. Ausschluss wegen fehlender Eignungsnachweise eines Nachunternehmers
Daraufhin hat der Auftraggeber ein Verhandlungsverfahren mit den geeigneten Bietern des aufgehobenen Vergabeverfahrens durchgeführt. Im laufenden Verfahren hat die Bieterin eine Verlängerung der Angebotsfrist beantragt, die ihr auch gewährt wurde.
Der Auftraggeber erhielt im Rahmen eines Verhandlungsgespräches Kenntnis davon, dass die Bieterin nunmehr die Arbeiten vollumfänglich durch einen Nachunternehmer erbringen lassen möchte. Für diesen waren aber keine Eignungsnachweise eingereicht worden. Daraufhin wurde die Bieterin vom Vergabeverfahren ausgeschlossen. In dem entsprechenden Ausschlussschreiben führte der Auftraggeber unter anderem aus:
„Eine Nachforderung der fehlenden Unterlagen gem. § 56 Abs. 2 VgV ist vorliegend weder geboten noch erforderlich. Ergibt die Prüfung auf Vollständigkeit wie vorliegend, dass Unterlagen fehlen, unvollständig oder (bei unternehmensbezogenen Unterlagen) fehlerhaft sind, können diese nach den Regelungen des § 56 Abs. 2 und Abs. 3 VgV bis zum Ablauf einer vom Auftraggeber zu bestimmenden Nachfrist grundsätzlich nachgefordert werden. Es besteht insoweit jedoch keine Verpflichtung des Auftraggebers zur Nachforderung.
Nach Ausübung des Ermessens und unter besonderer Berücksichtigung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit nach § 97 Abs. 1 S. 2 GWB ist vorliegend keine Nachforderung geboten. Insoweit würde eine Nachforderung zu einer weiteren, unzumutbaren Verzögerung des Vergabeverfahrens führen. Weiterhin wurde auf Bitten Ihres Unternehmens die Angebots- und Ausschlussfrist zur Abgabe der finalen Angebote bereits um 10 Kalendertage verlängert. Insoweit würde eine entsprechende Nachforderung nicht nur zu einer Besserstellung Ihres Unternehmens und damit zu einer unzulässigen Diskriminierung anderer Verfahrensteilnehmer führen. Dies ist jedoch mit den vergaberechtlichen Grundsätzen der Transparenz, der Nichtdiskriminierung und der Gleichbehandlung i.S.v. § 97 Abs. 1 S. 1 und Abs. 2 GWB nicht zu vereinbaren.“
2. Nachprüfungsverfahren
Die Bieterin ging gegen den Ausschluss mit einem Nachprüfungsverfahren vor. In diesem hat die Bieterin zusätzlich ausgeführt: Das Gleichbehandlungsgebot zwinge dazu, von einer Nachforderungsmöglichkeit nur zurückhaltend Gebrauch zu machen. Die Regelung sei nicht als Soll-Vorschrift zu lesen. Im Übrigen werde für den vorliegenden Fall ausgeführt, es habe keine Ermessensreduzierung auf null vorgelegen.
Dem hielt der Auftraggeber entgegen: Sofern die Bieterin trotz der verlängerten Angebots- und Ausschlussfrist „nicht Willens oder faktisch nicht in der Lage“ sei, die „geforderten Unterlagen bis zum Fristablauf entsprechend den transparent und diskriminierungsfrei aufgestellten Anforderungen beizubringen“, sei es „nicht an der Vergabestelle, diese Versäumnisse zu Lasten der anderen Wettbewerbsteilnehmer zu heilen“. Vielmehr würde eine entsprechende „Bevorzugung“ der Bieterin „gegen die Grundpfeiler des (Kartell-)Vergaberechts in Form der Gleichbehandlung, der Transparenz und der Nichtdiskriminierung verstoßen“.
Die Vergabekammer hat den Auftraggeber verpflichtet, die Wertung der Angebote einschließlich des Angebotes der Antragstellerin unter Beachtung der Rechtsauffassung der Vergabekammer erneut durchzuführen.
Hiergegen richtet sich nunmehr der Auftraggeber mit der sofortigen Beschwerde.
II. Die Entscheidung
Der Vergabesenat hat die Beschwerde zurückgewiesen. Die Vergabestelle habe den Anspruch der Bieterin auf Durchführung eines bestimmungsgemäßen Verfahrens verletzt, indem sie diese vergaberechtswidrig wegen angeblicher Nichterfüllung der Eignungsanforderungen aufgrund fehlender Unterlagen ausgeschlossen hat.
Eingangs stellte der Vergabesenat fest, dass die Eignung eines Bewerbers jedenfalls dann neu zu beurteilen sei, wenn die Zweifel an der Eignung nachträglich, also nach einer vorherigen Prüfung und Bejahung der Eignung, aufgrund eines geänderten Sachverhaltes entstanden seien. Die Prüfung, ob die erstmalige Erklärung der Bieterin, alle Arbeiten würden nunmehr durch eine Unterauftragnehmer erbracht, Einfluss auf die Erfüllung der Eignungskriterien hatte, sei daher zulässig gewesen.
Allerdings halte die Ermessensentscheidung des Auftraggebers auf eine Nachforderung der Unterlagen zu verzichten einer rechtlichen Nachprüfung nicht stand.
1. Prüfungsmaßstab: Ermessensnichtgebrauch oder Ermessensfehlgebrauch?
Der Vergabesenat hat zunächst den Prüfungsmaßstab erläutert: Die Ermessensentscheidung sei von den Nachprüfungsinstanzen nur beschränkt – und zwar analog § 114 VwGO – daraufhin zu überprüfen, ob die gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschritten seien oder von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht worden sei. Neben einem Ermessensnichtgebrauch (Ermessensausfall) und einer Ermessensüberschreitung komme dabei – hier allein relevant – ein Ermessensfehlgebrauch in Betracht.
Hierher gehörten zum einen die Fälle, in denen die Behörde nicht alle wesentlichen Gesichtspunkte berücksichtige oder nicht alle für die Entscheidung bedeutsamen Tatsachen ermittelt habe. Zum anderen handele es sich um die Fälle, in denen die Behörde den Zweck der Ermächtigung verkannt habe. Schließlich gehe es um die Fälle, in denen die Behörde bewusst aus unsachlichen Motiven gehandelt habe.
2. Die inneren und äußeren Grenzen des Ermessens
Ein Ermessensfehlgebrauch führe auch dann zur Rechtswidrigkeit der Ermessensentscheidung, wenn die gewählte Rechtsfolge im Ergebnis auch auf der Grundlage vollständiger und fehlerfreier Ermessenserwägungen hätte angeordnet werden können. Denn beim Ermessensfehlgebrauch gehe es um einen Verstoß gegen die „inneren“ Grenzen des Ermessens, während die Ermessensüberschreitung die „äußeren“ Grenzen des Ermessens betreffe. Letztere setze voraus, dass die angeordnete Rechtsfolge nicht von der Ermessensermächtigung gedeckt sei, im Ergebnis also unabhängig von den zugrunde liegenden Ermessenserwägungen nicht angeordnet werden durfte.
3. Das Ergebnis: Ermessensentscheidung hat keinen Bestand
Gemessen an diesen Grundsätzen hatte die Ermessensentscheidung aus Sicht des Vergabesenats keinen Bestand.
Zum einen sei die Ermessensausübung schon deshalb defizitär, weil sie die Nachforderung der Unterlagen unter dem Gesichtspunkt des Ausschlusses des Angebots wegen des fehlenden Eignungsnachweises der Subunternehmer und nicht (nur) der Nichteinhaltung der Anforderungen des § 53 Abs. 7 VgV prüfe.
Die Ermessensentscheidung berücksichtige auch nicht, dass eine Verzögerung bei jeder Nachforderung gegeben sei. Da Nachforderungen aber gleichwohl grundsätzlich zulässig seien, könne der pauschale Hinweis auf Verzögerungen allein keine tragfähige Erwägung darstellen. Grundsätzlich bedürfe es vielmehr der Abschätzung der konkret zu erwartenden Verzögerung und ihrer Auswirkungen auf das Verfahren.
Es sei auch zu berücksichtigen, ob die Vergabestelle diese Auswirkungen durch eine frühere Nachforderung hätte abmildern oder vermeiden können. Dabei wäre vorliegend eine Nachreichung ohne besondere Eile binnen weniger Tage, bei Eilbedürftigkeit notfalls auch binnen weniger Stunden möglich gewesen.
Ebenso sei unberücksichtigt geblieben, dass die im Formular vermisste Information auf Grundlage der Auslegung der Vergabestelle – Erbringung aller Leistungen durch einen Unterauftragnehmer – schon vorlag, so dass die Vergabestelle noch innerhalb der Angebotsfrist informiert, der Fehler also rein formal war.
Rechtsfehlerhaft sei die Erwägung der Vergabestelle, gegen die Nachforderung sprächen frühere „Verzögerungen“ sowie die Verlängerung der Angebots- und Ausschlussfrist zur Abgabe der finalen Angebote um zehn Kalendertage. Es sei nicht ersichtlich, dass aufgrund der Verlängerungen eine die Nachforderung infrage stellende Eilbedürftigkeit eingetreten wäre. Soweit das Vergabeverfahren insgesamt länger gedauert habe als bei Beginn erwartet, beruhe dies auf Entscheidungen der Vergabestelle bzw. darauf, dass diese Rügen abgeholfen hatte. Helfe die Vergabestelle aber einer Rüge ab, ohne dass dies von anderen Bietern erfolgreich angefochten würde, sei für das weitere Verfahren von einer berechtigten Rüge auszugehen, deren Erheben kein Kriterium bei einer zu Lasten der Bieterin gehenden Ermessensentscheidung sein könne.
Ferner habe die Vergabestelle bei ihrer Ermessensentscheidung nicht berücksichtigt, dass bei Ausschluss der Bieterin nur noch ein einziger Bieter übrigbleiben würde. Damit könne der Zweck des Vergabeverfahrens, die Bedürfnisse des öffentlichen Auftraggebers zu den bestmöglichen Konditionen zu befriedigen, allenfalls unzulänglich erreicht werden. Unberücksichtigt sei auch geblieben, dass § 56 Abs- 2 VgV auf eine möglichst weitgehende Berücksichtigung von Bieterangeboten ziele. Die Vorschrift bezwecke, im Interesse eines umfassenden Wettbewerbs den Ausschluss von Angeboten aus vielfach nur formalen Gründen zu verhindern und die Anzahl der am Wettbewerb teilnehmenden Angebote nicht unnötig zu reduzieren.
Soweit § 56 Abs. 2 VgV auf die Grundsätze der Transparenz und der Gleichbehandlung abstellt, sei dies nicht dahingehend zu verstehen, andere Gesichtspunkte und insbesondere der Zweck des Vergabeverfahrens seien unerheblich. Vielmehr seien die Grundsätze der Transparenz und Gleichbehandlung bei der unter Einbeziehung anderer Gesichtspunkte zu treffenden Entscheidung zu beachten.
Aus den genannten Gründen war die Angebotswertung zu wiederholen.
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III. Hinweise für die Praxis
In der täglichen Arbeit mag die Entscheidung, Nachweise nicht nachzufordern, oftmals nur rudimentär begründet werden. Wie der vorstehende Beschluss zeigt, stellt dies einen erheblichen Vergabefehler dar, der zu beträchtlichen Verzögerungen im Vergabeverfahren führen kann.
Sicher erfordert die Dokumentation der Ermessensentscheidung – wie die vorstehend besprochene Entscheidung verdeutlicht – ein erhebliches Maß an Rechtskenntnissen und entsprechender personeller Kapazitäten.
Auf der anderen Seite – auch dies hat der Beschluss sehr anschaulich gezeigt – geht es um die Rechte des Bieters und nicht zuletzt auch um den Erhalt eines Wettbewerbes. Dieser soll kein Selbstzweck sein, sondern der Ermittlung des wirtschaftlichsten Angebotes dienen. Insofern ist jede Vergabestelle gut beraten, das Unterlassen der Nachforderung sorgfältig im Rahmen einer Ermessensentscheidung abzuwägen und die entsprechenden Begründungen zu dokumentieren.
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