Die Berufung auf ein technisches Alleinstellungsmerkmal ist im Vergaberecht nur unter sehr strengen Voraussetzungen zulässig. Der Vergabesenat bei dem OLG Celle hat in einem Beschluss (vom 09.11.2021, 13 Verg 9 / 21) die Voraussetzungen dieses Ausnahmetatbestandes ebenso wie die rechtlichen Zusammenhänge, in denen die Ex Post Bekanntmachung steht, jüngst herausgearbeitet.

Der Autor

Norbert Dippel ist Syndikus der cosinex sowie Rechtsanwalt für Vergaberecht und öffentliches Wirtschaftsrecht. Der Autor und Mitherausgeber diverser vergaberechtlicher Kommentare und Publikationen war viele Jahre als Leiter Recht und Vergabe sowie Prokurist eines Bundesunternehmens tätig.

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Drängt die Zeit oder will man sich aus anderen Gründen ein formales Vergabeverfahren ersparen, ist die Berufung auf das so genannte „technische Alleinstellungsmerkmal“ wohl einer der gebräuchlichsten Wege zu einem Verhandlungsverfahren ohne Teilnahmewettbewerb mit nur einem Bieter. Dabei werden oftmals die doch sehr klaren rechtlichen Voraussetzungen überdehnt und nicht zuletzt unter Hinweis auf eine ex post-Bekanntmachung die rechtlichen Folgen und Risiken negiert.

I. Der Sachverhalt

Die spätere Beigeladene betreibt ein Fahrradverleihsystem mit ca. 1000 Fahrrädern in einer Stadt. Der öffentliche Auftraggeber ist ein Tarif- und Verkehrsverbund für den öffentlichen Personennahverkehr in dieser Stadt. Er schließt mit der Beigeladenen eine „Vereinbarung über Systemsponsoring“. Demnach stellt die Beigeladene entgeltlich insbesondere Werbeflächen für ein Markenbranding im gesamten System sowie die Integration in den Systemnamen zur Verfügung. Die Fahrräder sind Fahrgästen des Verkehrsverbundes, die über ein Abonnement oder einem Semesterticket verfügen, für 30 Minuten je Mietvorgang kostenlos zur Verfügung zu stellen.

Vor Abschluss des Vertrages hatte der Verkehrsverbund im Amtsblatt der Europäischen Union eine „Freiwillige Ex-Ante-Transparenzbekanntmachung“ veröffentlicht. Darin heißt es, dass ein Verhandlungsverfahren ohne vorherige Bekanntmachung durchgeführt werde, weil die Leistungen wegen nicht vorhandenem Wettbewerb aus technischen Gründen nur von einem bestimmten Wirtschaftsteilnehmer – der Beigeladenen – ausgeführt werden könnten. Diese hatte bereits seit dem Jahr 2019 auf der Grundlage eines vergleichbaren „Systemsponsoring-Vertrags“ ein Fahrradverleihsystem in der betreffenden Stadt betrieben.

Ein anderer Betreiber (die spätere Antragstellerin) von Fahrradverleihsystemen in anderen Städten rügte, dass es sich bei dem Sponsoringsvertrag um eine rechtswidrige De-facto-Vergabe an die Beigeladene handele. Die angerufene Vergabekammer hat festgestellt, dass der mit der Beigeladenen geschlossene Vertrag von Anfang an unwirksam sei, und die Antragsgegnerin verpflichtet, bei fortbestehender Beschaffungsabsicht ein Vergabeverfahren gemäß dem 4. Teil des GWB durchzuführen. Gegen diesen Beschluss haben der Verkehrsverbund und die Beigeladene sofortige Beschwerde eingelegt.

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II. Der Beschluss

Die sofortigen Beschwerden haben keinen Erfolg. Der Vergabesenat bei dem OLG Celle bestätigt die Entscheidung der Vergabekammer.

1. Das angebliche Alleinstellungsmerkmal

Die Vergabestelle berufe sich zu Unrecht auf die Ausnahmevorschrift des § 14 Abs. 4 Nr. 2 b VgV. Demnach dürften Aufträge im Verhandlungsverfahren ohne Teilnahmewettbewerb vergeben werden, wenn zum Zeitpunkt der Aufforderung zur Abgabe von Angeboten der Auftrag nur von einem bestimmten Unternehmen erbracht oder bereitgestellt werden kann, weil aus technischen Gründen kein Wettbewerb vorhanden war.

Voraussetzung sei das darzulegende und gegebenenfalls zu beweisende objektive Fehlen von Wettbewerb. Angesichts der negativen Auswirkungen auf den Wettbewerb sollten Verhandlungsverfahren ohne vorherige Veröffentlichung einer Auftragsbekanntmachung nur unter sehr außergewöhnlichen Umständen zur Anwendung kommen. Es müsse auch ausgeschlossen sein, dass für die Auftragsdurchführung weitere Unternehmen in Frage kämen, die die für den Auftrag notwendigen Fähigkeiten und Ausstattungen rechtzeitig erwerben könnten. Zweckmäßigkeitsüberlegungen oder rein wirtschaftliche Vorteile im Falle der Leistungserbringung durch ein bestimmtes Unternehmen seien nicht ausreichend.

An dieser Stelle setzte sich der Vergabesenat intensiv mit der Begründung des Verkehrsverbundes auseinander: Dieser führte an, dass Vertragsgegenstand nicht die Bereitstellung eines Fahrradverleihsystems, sondern das Sponsoring des von der Beigeladenen betriebenen Fahrradverleihsystems sei. Von dem Leistungsbestimmungsrecht sei gedeckt, eine Marketingkooperation mit einem Anbieter einzugehen, der in der Stadt bereits ein Fahrradverleihsystem aufgebaut habe. Denn von dessen Kundenstamm und Werbewirkung könne der Verkehrsverbund im Rahmen einer Kooperation profitieren.

Vor diesem Hintergrund ergebe eine Marketingkooperation mit einem Leihfahrradanbieter, der seine Leistungen außerhalb des Verbundgebiets anbiete, keinen Sinn. Außerdem wäre der Abschluss eines Sponsoringvertrags mit einem Newcomer für den Verkehrsverbund mit Unwägbarkeiten verbunden gewesen.

Der Vergabesenat sah in dem Vorbringen keine entsprechenden technischen Gründe. Solche wären beispielsweise, dass es für einen anderen Wirtschaftsteilnehmer technisch nahezu unmöglich sei, die geforderte Leistung zu erbringen, oder dass es nötig sei, spezielles Wissen, spezielle Werkzeuge oder Hilfsmittel zu verwenden, die nur einem einzigen Wirtschaftsteilnehmer zur Verfügung stünden.

2. Markterkundung Nicht dokumentiert

Ebenso sei nicht ersichtlich, dass bei den vertragsgegenständlichen Leistungen kein Wettbewerb vorhanden sei. Wesentlicher Vertragsinhalt sei das Bereitstellen eines Leihfahrradsystems für Abonnement- und Semesterticketkunden des Verkehrsverbundes zu definierten Konditionen sowie bestimmte Werbeleistungen. Dass diese Leistungen nicht auch von anderen Unternehmen angeboten werden könnten, habe der Verkehrsverbund nicht dargetan. Demgegenüber habe die Antragstellerin vorgetragen, dass sie in kürzester Zeit ein stationsloses Fahrradverleihsystem in der Stadt betreiben und Leistungen wie die ausgeschriebenen bereitstellen könne.

Der Verkehrsverbund hätte aber ernsthafte Nachforschungen anstellen müssen, um Unternehmen zu ermitteln, die – wie möglicherweise die Antragstellerin – zur Erbringung der Leistungen in der Lage seien. Auf eine nähere Markterkundung sei offensichtlich verzichtet worden. Jedenfalls gebe es keine Dokumentation hierzu.

Soweit die Antragsgegnerin geltend macht, es sei für sie unwägbar gewesen, ob ein anderer Anbieter das Leihfahrradsystem binnen kürzester Zeit aufbauen könne, hätte sie dem durch einen frühen Beginn des Vergabeverfahrens Rechnung tragen können, zumal der Vertragsschluss über sieben Monate vorbereitet worden sei. Hiervon abgesehen bleibe die Frage der Leistungsfähigkeit der Anbieter einer Eignungsprüfung im Rahmen eines wettbewerblichen Verfahrens.

3. Einschränkung der Ausnahme

Letztlich hätte der Verkehrsverbund auch § 14 Abs. 6 VgV beachten müssen. Nach dieser Vorschrift sei die Ausnahme des § 14 Abs. 4 Nr. 2 b VgV nur dann anwendbar, wenn es keine vernünftige Alternative oder Ersatzlösung gebe und der mangelnde Wettbewerb nicht das Ergebnis einer künstlichen Einschränkung der Auftragsvergabeparameter sei.

Die grundsätzlich gegebene Freiheit des Auftraggebers, den Gegenstand der Beschaffung nach seinen Zwecken und Bedürfnissen zu bestimmen, unterliege insoweit engeren vergaberechtlichen Grenzen als dies bei Durchführung eines wettbewerblichen Verfahrens der Fall sei.

Eine Leistungsbestimmung, die im Falle des technischen Alleinstellungsmerkmals zu einem völligen Wettbewerbsverzicht führe, bedürfe größerer Rechtfertigungstiefe als eine solche, die unter Aufrechterhaltung des Vergabewettbewerbs im Ergebnis (nur) zu einer hersteller- oder produktbezogenen Leistungsspezifikation gemäß § 31 Abs. 6 VgV führe.

4. Keine Wirksamkeit durch ex ante-Transparenz Bekanntmachung

An dieser Stelle muss ein kleiner Exkurs zur Rechtslage eingebaut werden, da die betreffenden Regelungen manchen Lesern nicht vertraut sein dürften:

Grundsätzlich gilt gem. § 135 Abs. 1 GWB: Ein öffentlicher

„Auftrag ist von Anfang an unwirksam, wenn der öffentliche Auftraggeber (…) den Auftrag ohne vorherige Veröffentlichung einer Bekanntmachung im Amtsblatt der Europäischen Union vergeben hat, ohne dass dies aufgrund Gesetzes gestattet ist, und dieser Verstoß in einem Nachprüfungsverfahren festgestellt worden ist.“

Allerdings gibt es hierzu eine Ausnahme: Nach § 135 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 GWB tritt die Unwirksamkeit u.a. nicht ein, wenn

„der öffentliche Auftraggeber der Ansicht ist, dass die Auftragsvergabe ohne vorherige Veröffentlichung einer Bekanntmachung im Amtsblatt der Europäischen Union zulässig ist“.

Genau an dieser Stelle setzte der Vergabesenat an und betonte die Verpflichtung des Auftraggebers zum sorgfältigen Handeln: Diese greife, wenn der öffentliche Auftraggeber der Ansicht sei, dass die Auftragsvergabe ohne vorherige Veröffentlichung einer Bekanntmachung zulässig sei (unter Berufung auf: EuGH, Urteil vom 11. September 2014 – C-19/13). Es handele sich hierbei um eine innere Tatsache, die in der Regel nur dann festgestellt werden könne, wenn entsprechende, nach außen erkennbare Tatsachen vorlägen. Um eine wirksame Kontrolle im Nachprüfungsverfahren sicherzustellen, dürften die Anforderungen nicht zu gering sein. Es sei eine mutwillige Umgehung der Pflicht zur europaweiten Ausschreibung abzugrenzen von einer nach bestem Wissen getroffenen fehlerhaften Entscheidung.

Die Entscheidung des öffentlichen Auftraggebers müsse aufgrund der konkreten Umstände in sachlicher und rechtlicher Hinsicht vertretbar sein. Eine tatsächliche Vermutung des Inhalts, dass der öffentliche Auftraggeber nur dann auf eine europaweite Ausschreibung verzichte, wenn er den Verzicht für zulässig halte, existiere nicht. Bleibe bei der Nachprüfung zweifelhaft, ob die vorausgesetzte Ansicht des Auftraggebers tatsächlich vorlag, müsse die Unaufklärbarkeit zu seinen Lasten gehen, da ihn die Beweislast für das tatsächliche Vorliegen des für ihn positiven Ausnahmetatbestands treffe.

Mangels Dokumentation könne nicht festgestellt werden, dass der Verkehrsverbund aufgrund einer sorgfältigen Prüfung der Sach- und Rechtslage in vertretbarer Weise zu der Ansicht gelangt sei, dass eine Auftragsvergabe ohne vorherige Veröffentlichung einer Bekanntmachung zulässig sei.

Belegt sei insoweit nur, dass die von dem Verkehrsverbund beauftragte Rechtsanwaltskanzlei ca. vier Monate vor der Bekanntmachung eine rechtliche Einschätzung vornahm, welche inhaltlich mit der freiwilligen Ex-ante-Bekanntmachung übereinstimmt.

Die oben im Sachverhalt kurz angesprochene Begründung hielt der Vergabesenat für nicht vertretbar. Es werde nicht plausibel begründet, weshalb es keinen Sinn haben soll, einen auswärtigen Anbieter mit der Erbringung der Leistungen zu beauftragen. Darüber hinaus seien verschiedene Ausführungen als bloße Annahmen gekennzeichnet, was aus der Formulierung („unseres Erachtens“) ersichtlich sei.

Der Umstand, dass die Antragsgegnerin die Anwälte mit der Prüfung beauftragt und sich möglicherweise auf ihre Einschätzung verlassen hat, reiche für die Feststellung einer sorgfältigen Prüfung der Sach- und Rechtslage durch den Auftraggeber nicht aus.

Von Praktikern, für Praktiker: Die cosinex Akademie

III. Hinweise für die Praxis

Die vorstehende Entscheidung des Vergabesenats bei dem OLG Celle belegt einmal mehr, dass die Berufung auf ein technisches Alleinstellungsmerkmal nur unter sehr strengen Voraussetzungen zulässig ist. Im Anwendungsbereich des § 14 Abs. 4 Nr. 2 b) VgV muss ausgeschlossen sein, dass für die Auftragsdurchführung weitere Unternehmen in Frage kommen, die die für den Auftrag notwendigen Fähigkeiten und Ausstattungen zwar noch nicht haben, aber rechtzeitig erwerben können.

Es hilft auch nicht, die Begründung formal zu externalisieren und von einer Rechtsanwaltskanzlei erarbeiten zu lassen. Denn letztlich kommt es lediglich auf das Argument an und nicht darauf, wer dieses Argument in das Verfahren einbringt.

Vor dem Hintergrund der gravierenden Rechtsfolgen (Nichtigkeit des Vertrages) bleibt es in Zweifelsfällen bei dem guten Rat, lieber ein wettbewerbliches Vergabeverfahren durchzuführen, als sich auf einen „wackligen“ technischen Ausnahmetatbestand zu berufen.