Der Beschluss einer Vergabekammer ergeht als Verwaltungsakt. Dessen Begründung erstreckt sich oftmals über viele Seiten und betrifft auch Sachverhaltsfeststellungen, Begründungsketten und nicht zuletzt rechtliche Ausführungen. Wird in einem Vergabeverfahren mehrfach ein Nachprüfungsantrag von demselben Bieter gestellt, kann die Frage erheblich werden, an welche Teile des rechtskräftigen Beschlusses die Instanzen gebunden sind. Diese auf den ersten Blick eher abstrakte rechtstheoretische Frage kann in der Praxis erhebliche Auswirkungen für Bieter und Vergabestellen haben. Wie verhält es sich beispielsweise mit falschen Sachverhaltsfeststellungen, auf denen die Entscheidung beruht?

Der Vergabesenat bei dem OLG Celle hat sich diesen Fragen in einem kürzlich ergangenen Beschluss (17.06.2021, 13 Verg 2 / 21) gewidmet.

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Der Sachverhalt

In einem EU-weiten Vergabeverfahren (Postdienstleistungen) kam es zu einem Streit zwischen einem Unternehmen, dem späteren Antragsteller, sowie der Vergabestelle. Streitgegenstand waren insbesondere angeblich intransparente Zuschlagskriterien sowie die Forderung nach Darstellung eines Qualitätssicherungskonzeptes – auch für Nachunternehmer.

In diesem ersten Nachprüfungsverfahren verpflichtete die Vergabekammer die Vergabestelle unter anderem bei der Wertung, die aus der Begründung ersichtliche Rechtsauffassung der Vergabekammer zu beachten. Außerdem sei es aus Sicht der Vergabekammer nicht zu beanstanden, wenn die Bieter als qualitatives Zuschlagskriterium „unabhängig davon, in welchem Umfang sie die ausgeschriebenen Leistungen im eigenen Betrieb oder unter Einschaltung von Nachunternehmen erbringen wollen“, mit ihren Angeboten ein Konzept zur Qualitätssicherung vorlegen mussten.

Die Vergabestelle wertete die Angebote daraufhin neu, wobei im Ergebnis ein Konkurrenzangebot der Antragstellerin als wirtschaftlichste Lösung ermittelt wurde. Dementsprechend informierte die Vergabestelle die Antragstellerin im Wege der Vorabinformation darüber, dass ein Wettbewerber für den Zuschlag ausgewählt worden sei.

Nach erfolgloser Rüge stellte die Antragstellerin einen zweiten Nachprüfungsantrag, in dem sie unter anderem die Wertung angegriffen hat.

Die Vergabekammer hat diesen Nachprüfungsantrag zurückgewiesen. Zum einen fehle es an einem Rechtsschutzbedürfnis aufgrund der bestandskräftigen vorangegangenen Entscheidung der Vergabekammer. Aber auch in der Sache sei die erneute Bewertung der Bieterkonzepte nicht zu beanstanden.

Gegen diesen Beschluss wendet sich die Antragstellerin mit der sofortigen Beschwerde. Sie greift den angefochtenen Beschluss insbesondere deshalb an, weil die Vergabekammer die Reichweite der Bestandskraft des ersten Beschlusses verkannt haben soll. Eine Bindung an Entscheidungsgründe bestünde aus Sicht der Antragstellerin nur, soweit diese Gegenstand des Entscheidungssatzes seien. In der Sache hätte die Vergabestelle das Angebot betreffend verschiedener Unterkriterien fehlerhaft gewertet.

Nachdem der Vergabesenat den Antrag der Antragstellerin, nach § 173 Abs. 1 Satz 3 GWB die aufschiebende Wirkung der sofortigen Beschwerde zu verlängern, zurückgewiesen hatte, hat die Vergabestelle vorgetragen, den Zuschlag an ein anderes Unternehmen erteilt zu haben. Die Antragstellerin hält dennoch an ihrem ursprünglichen Begehren fest.

Die Entscheidung

Die sofortige Beschwerde hielt der Vergabesenat schon für unzulässig, soweit es um die erneute Bewertung der Angebote geht, da der Zuschlag auf die beiden streitgegenständlichen Lose wirksam erteilt worden sei. Der Nachprüfungsantrag habe sich nach § 168 Abs. 2 Satz 1, 2 i.V.m. § 178 Satz 3 GWB durch die wirksame Erteilung der Zuschläge an die Beigeladenen erledigt. Dies führe zur Unzulässigkeit des auf den Primärrechtsschutzes gerichteten Nachprüfungsantrags.

Der hilfsweise gestellte Fortsetzungsfeststellungsantrag sei jedenfalls überwiegend zulässig, da die Antragstellerin insbesondere auch nach der erfolgten Zuschlagserteilung ein Interesse an der begehrten Feststellung einer Rechtsverletzung habe. Zwar habe sie ein solches Fortsetzungsfeststellungsinteresse nicht im Einzelnen näher dargelegt. Es liege aber auf der Hand, dass ihr im Falle einer Rechtsverletzung Schadensersatzansprüche gegen den Antragsgegner zustehen könnten und der Fortsetzungsfeststellungsantrag der Vorbereitungen solcher Ersatzansprüche dienen solle.

Die Antragstellerin sei gemäß § 160 Abs. 2 GWB auch antragsbefugt gewesen. Sie habe ein Interesse am Auftrag gehabt und mache die Verletzung von Rechten durch die Nichtbeachtung von Vergabevorschriften geltend.

Soweit die Antragstellerin allerdings auch in dem vorliegenden Verfahren noch die Intransparenz der Vergabeunterlagen betreffend das Zuschlagskriterium des Konzeptes zur Qualitätssicherung rüge, stünde dieser Rüge die Bestandskraft der vorangegangenen Entscheidung der Vergabekammer entgegen. Die entsprechende Rüge hätte die Antragstellerin bereits dort erhoben. Die Vergabekammer habe sie zurückgewiesen.

In einem bestandskräftig gewordenen Beschluss der Vergabekammer zurückgewiesene Rügen seien in einem späteren Nachprüfungsverfahren derselben Beteiligten aufgrund der materiellen Rechtskraft des früheren Beschlusses nicht mehr zu beachten. Die Antragstellerin sei daher jedenfalls mit dieser im vorangegangenen Nachprüfungsverfahren zurückgewiesenen Rüge ausgeschlossen.

Der Fortsetzungsfeststellungsantrag sei unbegründet. Die Vergabestelle durfte der Beigeladenen den Zuschlag erteilen.

Die Antragstellerin sei durch die vorgenommene Wertung ihres Angebotes nicht in ihren Rechten verletzt worden. Vielmehr war diese Wertung aufgrund der materiellen Rechtskraft der vorangegangenen Entscheidung der Vergabekammer zwingend und vergaberechtskonform.

Bestandskräftige Entscheidungen der Vergabekammer würden ungeachtet ihrer materiellen Richtigkeit Tatbestands- und Bindungswirkung entfalten. Diese Bindung umfasse den Tenor, die tragenden Entscheidungsgründe und tatsächlichen Feststellungen zum behaupteten Verstoß sowie die rechtliche Würdigung zu der Frage, ob ein Vergabeverstoß vorliege. Auch „Segelanleitungen“, mit denen der Vergabestelle auferlegt werde, welche Einzelheiten bei der Neubewertung der Angebote zu berücksichtigen seien, nähmen als Bestandteile der Hauptsacheentscheidung nach verbreiteter Auffassung grundsätzlich an deren Bestandskraft teil. Ausdrücklich hat der Vergabesenat offen gelassen, ob solche „Segelanweisungen“ auch insoweit Bindungswirkung entfalten würden, als es sich bei ihnen um obiter dicta (d.h. die ihnen zugrunde liegenden Erwägungen sind für die Entscheidung über die erhobenen Rügen nicht tragend) handele. Vorliegend seien die Erwägungen für die Entscheidung des damaligen Nachprüfungsverfahrens tragend.

Diesem Umfang der Bindungswirkung stehe nicht entgegen, dass die Vergabekammer nach § 168 Abs. 3 GWB durch Verwaltungsakt entscheide. Die Bindungswirkung der materiellen Bestandskraft eines Verwaltungsaktes erstrecke sich grundsätzlich allein auf den Entscheidungssatz und nicht auf die Gründe der Entscheidung oder auf Vorfragen. Diese seien vielmehr regelmäßig nur zur Auslegung des Entscheidungssatzes heranzuziehen. Die Begrenzung auf den Entscheidungsgegenstand entspreche nämlich dem Umfang, in dem das Gesetz der Verwaltung die Befugnis zu verbindlicher Regelung einräumte. 168 Abs. 1 Satz 1 GWB verleihe der Vergabekammer die Befugnis, nicht nur eine Rechtsverletzung des Antragstellers festzustellen, sondern auch die geeigneten Maßnahmen zu treffen, um diese zu beseitigen. Sie habe insoweit der Vergabestelle konkrete Anweisungen zum weiteren Vorgehen zu erteilen. Sie könne also geeignete Maßnahme anordnen, das Vergabeverfahren unter Beachtung ihrer Rechtsauffassung durchzuführen oder ordnungsgemäß bzw. vergaberechtskonform zu Ende zu führen oder fehlerhafte Schritte des Vergabeverfahrens, die zu einer Verletzung subjektiver Rechte des Antragstellers geführt hätten, zu wiederholen. Entsprechend habe die Vergabekammer auch in dem vorangegangenen Nachprüfungsverfahren entschieden, dass der Antragsgegner bei der weiteren Wertung die aus der Begründung ersichtliche Rechtsauffassung der Vergabekammer zu beachten habe. Diese ist daher von der Bindungswirkung umfasst. Hätte die Antragstellerin dies vermeiden wollen, hätte sie die damalige Entscheidung der Vergabekammer anfechten müssen.

Im weiteren Verlauf hat sich der Vergabesenat intensiv mit der rechtskräftigen Entscheidung der Vergabekammer auseinandergesetzt. Die Vergabekammer habe die Vergabeunterlagen betreffend das Wertungskriterium des Konzepts zur Qualitätssicherung in dem vorangegangenen Nachprüfungsverfahren dahingehend ausgelegt, dass „die Bieter unabhängig davon, in welchem Umfang sie die ausgeschriebenen Leistungen im eigenen Betrieb oder unter Einschaltung von Nachunternehmen erbringen wollen, mit ihren Angeboten ein Konzept zur Qualitätssicherung vorlegen mussten“, in dem „zumindest die eigenen Leistungen hinreichend ausführlich darzustellen“ sind, „zu denen im Falle einer nahezu vollständigen Unterbeauftragung vor allem das Schnittstellenmanagement und die Überwachung und Steuerung der Nachunternehmen gehört“.

Diese Auslegung sei nach den vorstehend dargestellten Maßstäben aus zwei Gründen im vorliegenden Nachprüfungsverfahren bindend zu beachten. Zum einen sei dies der tragende Grund dafür gewesen, die Rüge der mangelnden Transparenz des Vergabeverfahrens sowie der Verletzung des Wettbewerbs- und des Gleichbehandlungsgrundsatzes und damit u.a. den in dem vorangegangenen Vergabeverfahren erstrangig gestellten Antrag zurückzuweisen. Darüber hinaus handele es sich jedenfalls bei dieser Auslegung um die tragende Rechtsauffassung der Vergabekammer, die von der Vergabestelle nach dem dortigen Entscheidungssatz bei der erneuten Angebotswertung zu beachten war.

Hinweise für die Praxis

Die vorliegende Entscheidung hat verdeutlicht:

  • Bestandskräftige Entscheidungen der Vergabekammer entfalten ungeachtet ihrer materiellen Richtigkeit Tatbestands- und Bindungswirkung.
  • Diese Bindung umfasst den Tenor, die tragenden Entscheidungsgründe und tatsächlichen Feststellungen zum behaupteten Verstoß sowie die rechtliche Würdigung zu der Frage, ob ein Vergabeverstoß vorliegt.
  • Auch „Segelanleitungen“, mit denen der Vergabestelle auferlegt wird, welche Einzelheiten bei der Neubewertung der Angebote zu berücksichtigen sind, nehmen als Bestandteile der Hauptsacheentscheidung jedenfalls insoweit an deren Bestandskraft teil, als die ihnen zugrunde liegenden Erwägungen für die Entscheidung der Vergabekammer tragend waren.

Gerade bei Verfahren, in denen relativ früh ein Nachprüfungsantrag gestellt wird, müssen diese Aspekte bedacht werden. Jedenfalls kann die spätere Durchsetzung von Rechten erschwert sein, wenn eine „umfassende“ bestandskräftige Entscheidung vorliegt. Insoweit könnte es geboten sein, selbst dann bspw. gegen die tragenden Erwägungen vorzugehen, wenn man mit dem Ergebnis insgesamt zu diesem Zeitpunkt leben kann.

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