Auch die mit bestem „Wissen und Gewissen“ vorbereiteten Vergabeverfahren können im weiteren Verlauf in schwere Fahrwasser geraten. Eine zweiteilige Reihe befasst sich mit der Spruchpraxis der letzten zwölf Monate rund um das Thema Rüge und Co.

Der zweite Teil wirft einen Blick auf die mitunter schwierige Abgrenzung von Bieterfragen und Rügen sowie der Frage, inwieweit sich Bieter auf Rügen anderer Bieter im Verfahren berufen können.

Teil 1 der Reihe finden Sie unter diesem Link.

Der Autor

Norbert Dippel ist Syndikus der cosinex sowie Rechtsanwalt für Vergaberecht und öffentliches Wirtschaftsrecht. Der Autor und Mitherausgeber diverser vergaberechtlicher Kommentare und Publikationen war viele Jahre als Leiter Recht und Vergabe sowie Prokurist eines Bundesunternehmens tätig.

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Fragt er noch oder rügt er schon?

Die Abgrenzung von Bieterfrage zur Rüge ist mitunter schwierig. Die Vergabekammer des Bundes hat sich dieser Frage unlängst gewidmet (Beschluss vom 28.05.2020, VK 1 – 34 / 20).

Für die Frage, ob es sich um Rügen oder um Bieterfragen handelt, komme es nicht darauf an, wie der Bieter selbst sein Schreiben verstanden wissen wolle oder dass es früher üblich gewesen sei, mit der Vergabestelle offen und kooperativ über etwaige Probleme zu diskutieren.

Ob ein konkretes Bieterverhalten eine Rüge i.S. des § 160 Abs. 3 GWB darstelle, sei von den Vergabenachprüfungsinstanzen objektiv zu beurteilen und stehe nicht zur Disposition der Verfahrensbeteiligten. Anderenfalls könne ein Bieter mit dem Argument, bisher habe er nur Fragen gestellt, aber keine Rüge erhoben, mit einer „echten“ Rüge zuwarten, ob er den Zuschlag erhalte oder nicht. Ein solches „Taktieren“ mit einer Rüge sei gesetzgeberisch jedoch nicht gewollt. Denn die Rüge solle dem Auftraggeber frühzeitig Gelegenheit geben, ein vergaberechtswidriges Verhalten zu erkennen und dieses ggf. zu beseitigen, um das Vergabeverfahren möglichst rasch und ohne zeit- und kostenaufwändige Nachprüfungsverfahren zum Abschluss zu bringen.

Der erforderliche Inhalt einer ordnungsgemäßen Rüge ergebe sich aus deren bereits oben angesprochenen Zweck. Mit einer Rüge bringe ein Bieter zum Ausdruck, dass er eine Vorgehensweise oder ein Verhalten des Auftraggebers beanstanden wolle. Sie solle dem Auftraggeber frühzeitig Gelegenheit geben, ein möglicherweise vergaberechtswidriges Verhalten zu erkennen und dem abzuhelfen, um die Vergabe rasch zum Abschluss zu bringen und ein zeit- und kostenaufwändiges Nachprüfungsverfahren zu vermeiden oder durch eine Nichtabhilfemitteilung zumindest die frühzeitige Einleitung eines Nachprüfungsverfahrens zu bewirken. Eine ordnungsgemäße Rüge setze daher nicht nur voraus, dass die Tatsachen, auf die die Beanstandung gestützt werde, so konkret wie für die Nachvollziehbarkeit nötig benannt werden. Vielmehr solle aus der Rüge deutlich werden, dass es sich hierbei um einen Vergaberechtsverstoß handele, dessen Abhilfe begehrt werde. Um das Erheben einer Rüge und damit den Rechtsschutz nicht unangemessen zu erschweren, seien die Anforderungen an deren Inhalt und die Form dabei gering. Daher brauche der Vergaberechtsverstoß nicht exakt, z.B. durch das Nennen einer bestimmten Rechtsnorm, bezeichnet zu werden. Unschädlich sei es daher auch, wenn der betreffende Bieter in seiner Rüge eine andere Rechtsnorm angibt, die verletzt sein soll, als sein erst später hinzugezogener Rechtsanwalt. Ebenso wenig komme es darauf an, ob die von ihm genannte Norm tatsächlich verletzt oder z.B. bereits nicht einschlägig sei. Erforderlich, aber auch ausreichend für eine ordnungsgemäße Rüge sei es vielmehr, dass der Bieter den beanstandeten Sachverhalt nicht nur in tatsächlicher, sondern auch in rechtlicher Hinsicht durchdrungen habe, also aufgrund einer Parallelwertung in seiner Sphäre etwas nicht nur als für ihn nachteilig empfindet, sondern auch für rechtswidrig hält.

Vor diesem Hintergrund sah es die Vergabekammer als gänzlich unerheblich für das Vorliegen einer Rüge an, dass die Beanstandungen des Bieters regelmäßig mit einem Fragezeichen endeten. Auch in einem solchen Fall handele es sich nicht um reine Fragen, sondern um „Rügen“ i.S. des § 160 Abs. 3 GWB. Voraussetzung sei, dass sich aus dem Inhalt der „Frage“ insgesamt ergebe, dass es sich nicht nur um eine bloße (Verständnis-)Frage oder um eine reine Äußerung rechtlicher Zweifel handele. Vielmehr sei das Vorgebrachte als Mitteilung zu verstehen, dass der Bieter die derzeitige Vorgehensweise des Auftraggebers für fehlerhaft halte, verbunden mit der ernst gemeinten Aufforderung an den Auftraggeber, diesen Vergaberechtsverstoß zu beseitigen. Vorliegend seien die Fragen somit als Rüge zu bewerten.

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Hinweis für die Praxis

Ob Frage oder Rüge, Vergabestellen sind gehalten auf beides inhaltlich qualifiziert zu reagieren. In Zweifelsfällen empfiehlt es sich daher, in der Antwort dem Bieter transparent zu machen, dass seine Frage als Rüge gewertet wird. Wesentlicher Vorteil für öffentliche Auftraggeber ist, dass im Fall des Nichtabhelfens spätestens nach 15 Tagen der angestrebte Rechtsfrieden eintritt.

Muss jeder einzelne Bieter rügen?

Manch ein Bieter hält sich mit Bieterfragen erst einmal vornehm zurück, auch um gegenüber der Vergabestelle nicht als nervig oder pedantisch zu erscheinen. Hat ein Wettbewerber schon einen Umstand gerügt und wurde diese Rüge bereits beschieden, scheuen sich Bieter ggf. selbst noch einmal zu rügen; vielleicht, da die Antwort ohnehin festzustehen scheint. Welche prozessualen Auswirkungen dies haben kann, stellte die Vergabekammer des Bundes in einem jüngst ergangenen Beschluss dar (Beschluss vom 23.04.2021, VK 2 – 29 / 21).

Nach deren Ansicht erfordere § 160 Abs. 3 Satz 1 GWB schon nach dem ausdrücklichen Wortlaut eine Rüge des „Antragstellers“. Rügen dritter Bieter würden nicht genügen, da die Rüge eine Zulässigkeitsvoraussetzung zur Eröffnung eines Rechtsbehelfs in einem Verfahren des Individualrechtsschutzes sei. In diesem entspreche es weder dem Interesse des rügenden Bieters, diese Verfahrenshandlung zugunsten der Wettbewerber vorzunehmen noch dem Interesse des öffentlichen Auftraggebers, auf die mit der individuellen Rüge verbundene Warn- und Überprüfungsfunktion zu verzichten.

Bieter sind daher zur Wahrung der eigenen Rechte gehalten, nötigenfalls auch dann noch zu rügen, wenn ein Wettbewerber in diesem Vergabeverfahren eine sachlich identische Rüge erhoben hat. Zwar kennt die Rechtsprechung auch die Entbehrlichkeit einer Rüge. Dies setzt aber voraus, dass die Vergabestelle vorher klar und unmissverständlich zu erkennen gegeben hat, dass sie einer Rüge unter keinen Umstand entsprechen werde. Darauf könnte man verweisen, wenn die Rüge eines Wettbewerbers schon einmal abschlägig beschieden wurde. Letztlich wäre das aber nur eine Art argumentative Auffanglinie, um das Fehlen der eigenen Rüge prozessual zu heilen.

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