Auch die mit bestem „Wissen und Gewissen“ vorbereiteten Vergabeverfahren können im weiteren Verlauf in schwere Fahrwasser geraten. Erfahrungsgemäß lässt sich dies auch an Stil und Form der Bieterkommunikation festmachen: Aus den Formulierungen schimmert mitunter schon die anwaltliche Beratung durch. Irgendwann stehen dann die ersten Rügen ins Haus. Daher lohnt die laufende Beobachtung auch der Rechtsfortbildung im Bereich der Rüge. Die wichtigsten Entscheidungen der letzten zwölf Monate finden Sie daher im Rahmen eines zweiteiligen Beitrags im Überblick. Der zweite Teil erscheint in der kommenden Woche.

Der Autor

Norbert Dippel ist Syndikus der cosinex sowie Rechtsanwalt für Vergaberecht und öffentliches Wirtschaftsrecht. Der Autor und Mitherausgeber diverser vergaberechtlicher Kommentare und Publikationen war viele Jahre als Leiter Recht und Vergabe sowie Prokurist eines Bundesunternehmens tätig.

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Wann greift die Rügeobliegenheit?

Die Vergabekammer Nordbayern hat sich jüngst mit der Frage auseinandergesetzt, ab wann die Rügeobliegenheit greift (Beschluss vom 27.01.2021, RMF – SG 21 – 3194 – 5 – 50).

Die Rügeobliegenheit greift gem. § 160 Abs. 3 Satz 1 GWB ab dem Zeitpunkt der Kenntnis des vermeintlichen Vergabeverstoßes. Davon könne aus Sicht der Vergabekammer regelmäßig nur dann gesprochen werden, wenn dem Bieter bestimmte Tatsachen bekannt seien, die bei vernünftiger Würdigung einen Mangel des Vergabeverfahrens darstellen. Es genüge nicht, wenn die bekannten Tatsachen einen Vergaberechtsverstoß lediglich vermuten lassen würden. Der positiven Kenntnis solle gleichstehen, „wenn der Kenntnisstand des Antragstellers einen solchen Grad erreicht hat, dass seine (behauptete) Unkenntnis vom Vergaberechtsverstoß nur als ein mutwilliges Sich-Verschließen vor dem Erkennen dieses Rechtsverstoßes gewertet werden kann“.

Dementsprechend lösten lediglich für möglich gehaltene oder vermutete Rechtsverstöße keine Rügeobliegenheit aus. In der Regel sei ein Bieter, welcher einen Vergaberechtsverstoß vermutet, auch nicht gehalten, seine in rechtlicher Hinsicht ungenügenden Kenntnisse zu vervollständigen und dazu rechtlichen Rat einzuholen. Die Erkennbarkeit sei auf die einen Rechtsverstoß begründenden Tatsachen und auf deren rechtliche Bewertung als Vergaberechtsverstoß zu beziehen.

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Hinweis für die Praxis

Als praktischer Hinweis folgt daraus, dass Bieter mit der Rügeobliegenheit so lange jonglieren können, wie Ihnen zumindest nicht der ganze Sachverhalt oder auch die rechtliche Wertung bekannt ist. Dem kann die Vergabestelle mit Transparenz begegnen.

Kann eine Vielzahl an Rügen „unlauter“ sein?

Die Vergabekammer Lüneburg hatte sich mit der Frage zu beschäftigen, ob auch eine Vielzahl von Rügen und Bieterfragen irgendwann eine Schwelle überschreitet, die zum Ausschluss des Bieters berechtigen (Beschluss vom 01.12.2020, VgK – 43 / 2020).

Die Vergabestelle sah in dem Gesamtverhalten eines Bieters den Versuch, die Entscheidungsfindung des öffentlichen Auftraggebers in unzulässiger Weise zu beeinflussen. Er nutze Bieterfragen und Rügen sowie den vorgesehenen Rechtsschutz des Nachprüfungsverfahrens allein dafür, das Leistungsbestimmungsrecht des öffentlichen Auftraggebers zu konterkarieren. In dem entschiedenen Fall ging es um Wertungskriterien und -methoden. Nach Ansicht der Vergabestelle sei es alleiniges Ziel dieses Vorgehens gewesen, eine allein preisliche Bewertung dieses Vergabeverfahrens zu erkämpfen, um dabei rücksichtslos sowohl berechtigte Interessen des öffentlichen Auftraggebers als auch die Interessen anderer Marktteilnehmer zu übergehen. Einzelne Bieteranfragen dienten nach Auffassung der Vergabestelle allein dem Zweck, vorsätzlich irreführende Informationen zu übermitteln, um die Vergabeentscheidung des öffentlichen Auftraggebers erheblich zu beeinflussen.

Dem folgte die Vergabekammer nicht. Sie stellte darauf ab, dass das erkennbare Ziel der Bieterin sei, im Wege des Nachprüfungsverfahrens zu erreichen, dass die Vergabestelle das streitgegenständliche Vergabeverfahren entweder aufheben oder in ein Stadium vor Aufforderung zur Angebotsabgabe zurückversetzen muss. Dabei solle sie verpflichtet werden, die Anforderungen an das Wertungskriterium eines Konzeptes zur Qualitätssicherung anders zu gestalten, was die Chancen auf einen Zuschlag der Angebote des Bieters erhöhen würde.

Von Praktikern, für Praktiker: Die cosinex Akademie

Ungeachtet dessen, ob die Beanstandungen des Bieters letztlich begründet seien oder ob die Zuschlagskriterien und ihre Gewichtung vorliegend vergaberechtskonform seien, verfolge der Bieter mit seinen Rügen und dem Nachprüfungsantrag jedenfalls keine vergaberechtswidrigen Ziele. Im Streitfall obliege es vielmehr den angerufenen Nachprüfungsinstanzen, zu entscheiden, ob der Bieter in seinen Rechten verletzt sei und gegebenenfalls geeignete Maßnahmen zu treffen, um eine Rechtsverletzung zu beseitigen und eine Schädigung der betroffenen Interessen zu verhindern. Dies allein sei Inhalt und Zweck des mit dem 4. Teil des GWB eingeführten vergaberechtlichen Primärrechtsschutzes.

Demgegenüber ermögliche es § 124 Abs. 1 Nr. 9 GWB, ein Unternehmen bei unzulässigen Beeinflussungen eines Vergabeverfahrens auszuschließen. Dessen lit. a erfasst dabei Fälle, in denen ein Unternehmen versucht, die Entscheidungsfindung des öffentlichen Auftraggebers in unzulässiger Weise zu beeinflussen.

Der stringente und manchmal möglicherweise auch hartnäckige Versuch, einen öffentlichen Auftraggeber im Wege von Rügen und ggf. einem sich anschließenden Nachprüfungsverfahren zu bewegen, vermeintlich vergaberechtswidrige Anforderungen der Vergabeunterlagen oder Zuschlagskriterien zu verändern, damit die Chancen des betreffenden Bieters auf den Zuschlag steigen, sei weder unlauter noch unzulässig i. S. § 124 Abs. 1 Nr. 9 GWB. Die Rügen seien vielmehr regelmäßiger Gegenstand des vergaberechtlichen Primärrechtsschutzes. Auch die damit verbundene, von der Vergabestelle angeführte zeitliche Verzögerung des Abschlusses des Vergabeverfahrens und ggf. die Belastung und Bindung personeller Ressourcen in den Vergabestellen der öffentlichen Auftraggeber haben der EU-Richtliniengeber wie auch der Bundesgesetzgeber mit der Schaffung des Rechtsschutzes bewusst als zumutbar und notwendig akzeptiert.

Hinweis für die Praxis

Damit verbleibt als praktischer Hinweis die Binsenweisheit, dass Rügen nerven können. Letztlich sind sie aber das gute Recht eines jeden Bieters.

Bildquelle: BrunoWeltmann – Fotolia.com