Wohl nie zuvor wurde die Ausnahmebestimmung „aus Gründen der Dringlichkeit“ für die Durchführung von Verhandlungsverfahren oder Verhandlungsvergaben ohne vorgeschalteten Teilnahmewettbewerb so oft bemüht wie im letzten Jahr. Oftmals sollte schon der bloße Hinweis auf die grassierende Corona-Pandemie zur Begründung ausreichen.

Der Autor

Norbert Dippel ist Syndikus der cosinex sowie Rechtsanwalt für Vergaberecht und öffentliches Wirtschaftsrecht. Der Autor und Mitherausgeber diverser vergaberechtlicher Kommentare und Publikationen war viele Jahre als Leiter Recht und Vergabe sowie Prokurist eines Bundesunternehmens tätig.

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Dabei droht übersehen zu werden, dass dieser Ausnahmetatbestand kein Freifahrtschein für Direktvergaben ist. Das OLG Karlsruhe hat in einer jüngeren Entscheidung wesentliche Hinweise gegeben (Beschluss vom 04.12.2020, 15 Verg 8 / 20).

I. Der Sachverhalt

Ursprünglich hatte der Auftraggeber im Jahr 2017 Busverkehrsleistungen EU-weit ausgeschrieben. Antragsgemäß wurde der Antragstellerin die Einrichtung, Linienführung und der Betrieb des Linienverkehrs im eigenwirtschaftlichen Verkehr bis 12.12.2026 genehmigt (§ 12 Abs. 6 PBefG).

Allerdings wollte die Antragstellerin schon zum 14.04.2020 aus wirtschaftlichen Gründen von der Betriebspflicht entbunden werden, was ihr auch gestattet wurde.

Der Auftraggeber vergab ohne vorherige EU-Bekanntmachung zum 14.04.2020 die später streitbefangenen Busverkehrsleistungen für zwei Jahre an zwei Unternehmen.

Ein Unternehmen, die spätere Antragstellerin, rügte die „Direktvergabe“ im Juni 2020 erfolglos als unzulässige De-facto-Vergabe.

Kurz nach Zurückweisung der Rüge stellte die Antragstellerin ein Nachprüfungsverfahren und beantragte, die Unwirksamkeit der mit den Beigeladenen geschlossenen Verträge festzustellen.

Im Kern beanstandete sie, trotz mehrfach zum Ausdruck gebrachten Interesses an der Auftragsvergabe, nicht beteiligt worden zu sein. Die Voraussetzungen für eine Notvergabe oder eine Dringlichkeitsvergabe hätten nicht vorgelegen. Die Vergabekammer schloss sich der Ansicht der Antragstellerin an, weshalb nunmehr der Auftraggeber mit der sofortigen Beschwerde den Vergabesenat bei dem OLG Karlsruhe anrief.

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II. Die Entscheidung

Die sofortige Beschwerde war zulässig, hatte aber keinen Erfolg.

1. Keine Rüge erforderlich

Zunächst stellte der Vergabesenat fest, dass eine Rüge für die Zulässigkeit eines Nachprüfungsantrags nicht erforderlich gewesen sei. Werde der Auftrag ohne vorherige Veröffentlichung einer Bekanntmachung vergeben und sei nunmehr die Feststellung der Unwirksamkeit des Vertrags beantragt, sei laut Gesetz keine Rüge erforderlich (§ 135 Abs. 1 Nr. 2 GWB i.V.m. § 160 Abs. 3 Satz 2 GWB).

2. Unwirksamkeit der geschlossenen Verträge

Der Vergabesenat verwies darauf, dass die Aufträge nicht wegen besonderer Dringlichkeit ohne Wettbewerb hätten vergeben werden dürfen.

Gemäß § 14 Abs. 4 Nr. 3 VgV könne ein öffentlicher Auftraggeber Aufträge im Verhandlungsverfahren ohne Teilnahmewettbewerb vergeben, wenn äußerst dringliche, zwingende Gründe im Zusammenhang mit Ereignissen, die der betreffende öffentliche Auftraggeber nicht voraussehen konnte, es nicht zulassen, die Mindestfristen einzuhalten, die für das offene und das nicht offene Verfahren sowie für das Verhandlungsverfahren mit Teilnahmewettbewerb vorgeschrieben sind; die Umstände zur Begründung der äußersten Dringlichkeit dürfen dem öffentlichen Auftraggeber nicht zuzurechnen sein.

Der Vergabesenat gestand dem Auftraggeber zu, dass der Antrag der Antragstellerin auf Entbindung ihrer eigenwirtschaftlichen Durchführung der Verkehrsleistungen nicht (länger) vorhersehbar gewesen sein mag. Zwischen der Entscheidung über den Antrag und der Einstellung der Tätigkeit lag nur etwas mehr als ein Monat. Ausführlich legte der Vergabesenat dar, dass die Angebotsfrist in einem offenen Verfahren gemäß § 15 Abs. 3 VgV auf bis zu 15 Tage hätte verkürzt werden können. Auch bezogen auf die Vorabinformation hätte die Frist durch Versenden auf elektronischem Weg gemäß § 134 Abs. 2 GWB auf 10 Tage beschränkt werden können. Im Vergabevermerk sei nicht konkret dargelegt, dass in den zur Verfügung stehenden 35 Tagen / fünf Wochen ab dem 12.03.2020 ein offenes Verfahren unter Einhaltung der Mindestfristen nicht hätte durchgeführt werden können.

Außerdem müsse berücksichtigt werden, dass der Auftraggeber schon im Vorfeld wusste, dass die Antragstellerin von ihrer Leistungspflicht entbunden werden möchte. Insoweit hätte sie auch früher mit dem Vergabeverfahren beginnen können.

3. Unklare Beschaffungsabsicht

Der Vergabesenat setzte sich ausführlich mit dem Umstand auseinander, dass im Vorfeld der Neuvergabe unklar war, ob und wann die Antragstellerin die Leistungserbringung einstellen kann. Damit war eigentlich unklar, zu welchem Zeitpunkt die Leistung benötigt werde. Dennoch hätte eine Bekanntmachung erfolgen und trotz der Ungewissheit das Vergabeverfahren begonnen werden können. Der Auftraggeber hätte auf die Ungewissheiten durch klare und unmissverständliche Vorbehalte in der Bekanntmachung hinweisen können (unter Hinweis auf: OLG Düsseldorf, Beschluss vom 10.6.2015 – Verg 39/14).

4. Vertragslaufzeit und Dringlichkeit

Der Vergabesenat hatte erhebliche Bedenken, weil die Laufzeit der „dringlich“ geschlossenen Verträge zwei Jahre beträgt.

Der Wettbewerbsgrundsatz und das Gebot der Transparenz (§ 97 Abs. 1 GWB und § 14 Abs. 4 Nr. 3 VgV) verlangen, dass erforderliche Maßnahmen lediglich so weit unter Einschränkung des Wettbewerbs getroffen und Aufträge vergeben werden, wie die Dringlichkeit es gebiete. Dauerschuldverhältnisse (wie die Beauftragung mit Verkehrsleistungen), die wegen Dringlichkeit gemäß § 14 Abs. 4 Nr. 3 VgV aufgrund eines Verhandlungsverfahrens ohne Teilnahmewettbewerb eingegangen werden, müssten auf einen Zeitraum beschränkt werden, in dem eine Auftragsvergabe aufgrund eines wettbewerblichen Vergabeverfahrens möglich sei. Grundsätzlich sei daher die Dauer eines Vertrags auf den Zeitraum zu beschränken, der für die Erhaltung der Kontinuität der Leistungserbringung während der Vorbereitung und Durchführung eines sich anschließenden ordnungsgemäßen Vergabeverfahrens erforderlich sei.

5. Fehlerhaftes Verhandlungsverfahren

Der Vergabesenat stellte klar, dass auch ein Verhandlungsverfahren ohne Teilnahmewettbewerb gemäß § 14 Abs. 3 VgV im Regelfall einen angemessenen Bieterwettbewerb erfordere, um dem Wettbewerbsprinzip gemäß § 97 Abs. 1 S. 1 GWB Rechnung zu tragen. Der öffentliche Auftraggeber habe grundsätzlich mindestens drei Bewerber einzuladen (§ 51 Abs. 2 S. 1 VgV).

Aus dem Vergabevermerk gehe lediglich die Aufnahme von Verhandlungen mit den beiden späteren Vertragspartnern hervor. Ein dritter Interessent wurde ohne Einbeziehung in das Verfahren abgewiesen. Anderes haben die Antragsgegner auch nicht vorgetragen.

Aus der Textdokumentation sei nicht ersichtlich, dass Dringlichkeitsgründe die Einbeziehung weiterer Interessenten in die Verhandlungen nicht zuließen. Insbesondere sei es auch unzulässig gewesen, die Antragstellerin nicht in die Vergabeverfahren einzubeziehen.

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III. Hinweise für die Praxis

Bei Beschaffungen unter dem Primat der Dringlichkeit scheint oftmals zu gelten: „Not kennt kein Gebot“. Der Ausnahmetatbestand wird als Freifahrtschein für ein Absehen vom Wettbewerb verstanden. Aus der vorstehend skizzierten Entscheidung des OLG Karlsruhe spricht eine andere Logik. Zunächst greift der Ausnahmetatbestand nur, wenn sich eine andere Verfahrensart mit den Möglichkeiten der Fristverkürzung angesichts der Dringlichkeit nicht mehr durchführen lässt. Hier ist ein hohes Maß an Sorgfalt an den Tag zu legen und zu prüfen, ob nicht doch beispielsweise ein beschleunigtes offenes Verfahren möglich wäre.

Selbst wenn man ausnahmsweise ein Verhandlungsverfahren oder eine Verhandlungsvergabe aus Gründen der Dringlichkeit ohne Teilnahmewettbewerb durchführt, muss grundsätzlich ein minimaler Wettbewerb, d. h. die Beteiligung von drei Bietern, gewährleistet sein.

Das OLG Karlsruhe mag nicht explizit auf den Wirtschaftlichkeitsnachweis eingegangen sein, gleichwohl muss dieser bei dringenden Beschaffungen geführt werden: Auch eine dringende Beschaffung muss wirtschaftlich sein. Beschaffer sind daher gut beraten, dem Wirtschaftlichkeitsaspekt gerade bei einem eingeschränkten oder sogar ausgesetzten Wettbewerb Aufmerksamkeit zu schenken.

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