Kleine Skulptur der Justitia

Die wohl größte (wirtschaftliche) Gefahr bei öffentlichen Ausschreibungen im Ober- wie auch im Unterschwellenbereich liegt nicht vordringlich in Beschwerden der Bieter oder Nachprüfungsverfahren, sondern in qualifizierten Schadensersatzansprüchen unterlegener Bieter im Wege des regulären Rechtsschutzes, wie ein aktueller Beschluss des BGH eindrucksvoll belegt.

Der Autor

Norbert Dippel ist Syndikus der cosinex sowie Rechtsanwalt für Vergaberecht und öffentliches Wirtschaftsrecht. Der Autor und Mitherausgeber diverser vergaberechtlicher Kommentare und Publikationen war viele Jahre als Leiter Recht und Vergabe sowie Prokurist eines Bundesunternehmens tätig.

Alle Beiträge von Norbert Dippel »

Bereits seit einigen Jahren ist die Frage des Rechtsschutzes unterhalb der EU-Schwellenwerte eine vielfach politisch geführte Diskussion zwischen öffentlichen Auftraggebern und Unternehmen sowie deren Interessenverbänden.

Die Beiträge der letzten Monate in unserem Blog zeigen eindrücklich: Der Rechtsschutz ist – auch bei Vergabeverfahren unterhalb der EU-Schwellenwerte – schon lange Realität, wenn bisweilen auch durch die „kalte Küche“ zivilrechtlicher Forderungen. Gleichwohl sind die sich hieraus ergebenden Risiken vielfach noch nicht im Fokus der Vergabestellen.

Dies mag daran liegen, dass vergleichsweise nur wenige von derartigen Regressforderungen öffentlich werden. Nach unserer Erfahrung einigt man sich zumindest mit Blick auf die Schadenhöhe oftmals im Wege von Vergleichen, die der Vertraulichkeit unterliegen.

Ein aktueller Beschluss des BGH (Urteil vom 08.12.2020, XIII ZR 19 / 19) befasst sich mit der Frage der Voraussetzungen des „großen Schadensersatzes“, den der erstplatzierte Bieter bei einer rechtswidrigen Aufhebung geltend macht.

Zum Sachverhalt

Was war passiert? Die spätere Klägerin nahm an einer Ausschreibung der späteren Beklagten teil und gab am 31. März 2016 mit rund 1,5 Mio. EUR das günstigste Angebot für die schlüsselfertige Errichtung eines Mehrfamilienhauses zur Unterbringung von Flüchtlingen ab. Die Parteien vereinbarten, die Angebotsbindefrist bis zum 13. Mai 2016 zu verlängern.

Nachdem die Klägerin nicht bereit war, die Bindefrist nochmals zu verlängern, teilte ihr die Beklagte mit Schreiben vom 8. Juni 2016 mit, die Ausschreibung werde wegen Wegfalls des Beschaffungsbedarfs aufgehoben. Diesbezüglich stellte der BGH aber fest, dass die Beklagte das Bauvorhaben trotz der Aufhebung nie ganz aufgegeben hat.

Tatsächlich forderte die Beklagte am 29. September 2016 die Klägerin auf, ein Angebot zur schlüsselfertigen Errichtung eines Mehrfamilienhauses abzugeben. Der Aufforderung zugrunde lag ein Bauprojekt in derselben Lage und mit dem gleichen Leistungsverzeichnis wie bei der ersten Ausschreibung. Da die Klägerin dieses Mal nicht das günstigste Angebot abgegeben hatte, erhielt ein Dritter den Zuschlag.

Keinen Beitrag mehr verpassen? Jetzt für unseren Newsletter anmelden und Themen auswählen

Ihre Anmeldung konnte nicht gespeichert werden. Bitte versuchen Sie es erneut.
Ihre Anmeldung war erfolgreich.

Vorherige Instanzen uneinig

Die Klägerin verklagte die Beklagte auf Zahlung von Schadensersatz.

In zweiter Instanz hat das OLG Karlsruhe als Berufungsgericht der Klägerin einen Schadensersatzanspruch in Höhe von 48.600 EUR wegen entgangenen Gewinns sowie 1.400 EUR als Ersatz der Angebotserstellungskosten für das erste aufgehobene Vergabeverfahren sowie 150 EUR Aufwendungsersatz für die Angebotsunterlagen zuerkannt.

Hiergegen richtete sich die vom BGH zugelassene Revision, mit der die Beklagte weiterhin die Klageabweisung anstrebte. Im Ergebnis zu Recht, wobei der BGH allein die Angebotserstellungskosten des ersten Vergabeverfahrens als erstattungsfähig ansah.

Beschluss des BGH

Der BGH hat den Fall zum Anlass genommen, zunächst sein Grundverständnis zum Schadensersatz wegen Vergabefehlern darzulegen.

Grundüberlegung des BGH zum Schadensersatz bei Verfahrensaufhebung

Ausgangspunkt der Überlegung des BGH zum Schadensersatz bei Verfahrensaufhebungen ist die Feststellung, dass der öffentliche Auftraggeber selbst dann nicht zur Auftragsvergabe verpflichtet ist, wenn kein anerkannter Grund für die Aufhebung des Verfahrens vorliegt. Die Auftragsvergabe diene nicht dem Bieterinteresse, sondern allein der Befriedigung des öffentlichen Beschaffungsbedarfs.

Vergaberechtliche Vorschriften mit bieterschützendem Charakter begründeten kein Recht auf die Auftragserteilung, sondern nur das Recht eines jeden Bieters, der die Voraussetzungen hierfür erfüllt, auf Teilnahme am Wettbewerb unter fairen, transparenten und nicht diskriminierenden Bedingungen und damit auf Wahrung der Chance auf einen Zuschlag. Bieter können demgemäß zwar die Beachtung aller für das Verfahren und die Zuschlagserteilung maßgeblichen Vorschriften erwarten, nicht aber die Auftragsvergabe selbst.

Demnach bestünde der Schaden des Zuschlagskandidaten, dessen Angebot den Zuschlag nicht erhalten hat, regelmäßig nicht in dem entgangenen Gewinn. Ihm stünde grundsätzlich (nur) ein Anspruch auf Ersatz der mit der Teilnahme am Verfahren verbundenen Aufwendungen zu.

Ein weitergehender Anspruch auf Ersatz entgangenen Gewinns kommt nach den eingängigen, wie lehrbuchtauglichen Ausführungen des BGH im Fall einer unrechtmäßigen Aufhebung regelmäßig dann in Betracht, wenn das Vergabeverfahren mit einem Zuschlag abgeschlossen wird, der Zuschlag jedoch nicht demjenigen Bieter erteilt wird, auf dessen Angebot er bei Beachtung der maßgeblichen vergaberechtlichen Vorschriften allein hätte erteilt werden dürfen.

In diesem – und grundsätzlich nur in diesem – Fall verdichte sich der bloße Teilhabeanspruch zu einem Anspruch auf Schadensersatz für den entgangenen, aber tatsächlich anderweitig erteilten Zuschlag. Bieter, die solche Zuschläge hätten erhalten müssen, sind demgemäß wirtschaftlich so zu stellen, wie sie gestanden hätten, wäre der Auftrag ihnen und nicht Dritten zugeschlagen worden (Ersatz entgangenen Gewinns bzw. großer Schadensersatz).

Dementsprechend würde sich ein Anspruch auf Ersatz des positiven Interesses ergeben, wenn der später vergebene Auftrag bei der gebotenen wirtschaftlichen Betrachtungsweise das gleiche Vorhaben und den gleichen Auftragsgegenstand betrifft und die Auftragsvergabe wertungsmäßig als Zuschlag im ersten Vergabeverfahren an einen in diesem Verfahren nicht zuschlagsberechtigten Bieter anzusehen ist.

Dies sei namentlich der Fall, wenn der öffentliche Auftraggeber die Ausschreibung nicht aus – im Hinblick auf die in diesem Verfahren mögliche Vergabe an den Bieter mit dem annehmbarsten Angebot – sachlichen und willkürfreien Gründen aufhebt, sondern das Vergabeverfahren aufhebt, um den Auftrag außerhalb des eingeleiteten Vergabeverfahrens an einen anderen Bieter vergeben zu können (vgl. BGH, Urteil vom 8. September 1998 – X ZR 99/96). Gerade an der zweiten Voraussetzung mangele es.

Auf den Fall bezogen

Der BGH arbeitete zunächst die vorstehenden Voraussetzungen ab. Seiner Ansicht nach hätte die Klägerin in dem ersten aufgehobenen Vergabeverfahren den Zuschlag erhalten müssen. Auch sei der Auftrag tatsächlich erteilt worden, da es sich um den identischen Bauauftrag gehandelt habe. Angesichts des engen zeitlichen Zusammenhangs, der gleichen Lage sowie des gleichen Leistungsverzeichnisses sei vom identischen Bauvorhaben auszugehen. Dass darin nicht mehr – wie ursprünglich geplant – Flüchtlinge, sondern sozial benachteiligte Personen untergebracht werden sollten, sei demnach unerheblich.

Allerdings mangelte es an der weiteren Anspruchsvoraussetzung: Der BGH untersuchte detailliert, ob der dem anderen Unternehmen in dem zweiten Vergabeverfahren erteilte Zuschlag wertungsmäßig einem Abschluss des – rechtswidrig aufgehobenen – ersten Vergabeverfahrens mit dem Zuschlag an einen in diesem Verfahren nicht zuschlagsberechtigten Bieter gleichzustellen sei und damit als der Klägerin in diesem ersten Verfahren entgangener Zuschlag anzusehen sei. Dies verneinte er im Ergebnis.

Ausgiebig setzte sich der BGH mit den Gründen für die Aufhebung des ersten Vergabeverfahrens auseinander. Er teilte die Einschätzung der Vorinstanz, dass der Gemeinderat die Entscheidung, ob gebaut wird oder nicht, lediglich habe aufschieben wollen. Hintergrund seien die sich verändernden Flüchtlingszahlen gewesen. Deshalb habe sich die Beklagte nicht dazu entschließen können, wie ursprünglich vorgesehen mit dem Bau des Gebäudes zu beginnen. Sie wollte sich Zeit verschaffen. Nachdem dies durch eine weitere Verlängerung der Angebotsbinde- und Zuschlagsfrist nicht mehr möglich war, weil die Klägerin dieser nicht zustimmte, sei die Beklagte in die Aufhebung der Ausschreibung ausgewichen.

Damit sei zwar die Beschaffungsabsicht nicht entfallen und die Aufhebung rechtswidrig. Das Verhalten der Beklagten habe aber nicht auf die Vergabe an einen in dem aufgehobenen Verfahren nicht zuschlagsberechtigten Auftragnehmer gezielt, sondern auf Zeitgewinn. In dem oben ausgeführten Sinne war dies im Hinblick auf die in dem aufgehobenen Verfahren mögliche Vergabe an die Klägerin als Bieterin mit dem annehmbarsten Angebot eine sachliche und willkürfreie Erwägung.

Auch im Übrigen ergeben sich aus den Feststellungen des Berufungsgerichts keine Anhaltspunkte dafür, dass die Auftragsvergabe in dem zweiten Vergabeverfahren wertungsmäßig einem rechtswidrigen Zuschlag an einen anderen Bieter als die Klägerin im ersten, aufgehobenen Vergabeverfahren gleichzusetzen wäre.

Von Praktikern, für Praktiker: Die cosinex Akademie

Hinweise für die Praxis

Die Logik, die hinter der vorgestellten Entscheidung steht, ist nicht banal, setzt eine gewisse Durchdringung der Argumentation des BGH voraus und fußt in der besonderen Stellung von Bietern und Auftraggebern. Letztlich leitet sie sich aus dem Grundsatz ab, dass der Auftraggeber jederzeit das Vergabeverfahren aufheben kann. Verwirklicht er die Beschaffungsabsicht nach der Aufhebung eines vorangegangenen Vergabeverfahrens, kommt es auf die Motivation zur Aufhebung an. Vorliegend stellte der BGH darauf ab, dass die Entscheidung zur Aufhebung aus sachlichen Gründen (aufschieben des Vorhabens aufgrund unklarer Entscheidungslage, aus der Bindefrist gelaufene Angebote) sowie willkürfrei erfolgte.

Aufgrund dieser besonderen Motivation stellt sich wertungsmäßig die Bezuschlagung nicht als Zuschlag an einen nicht zuschlagsberechtigten Bieter dar. Dieser Zuschlag ist nicht mit dem in dem ersten Vergabeverfahren entgangenen Zuschlag der Klägerin gleichzusetzen. Die Aufhebung mag zwar (vergabe-)rechtswidrig gewesen sein. Da sie aber willkürfrei und sachlich fundiert begründet war, war es eine zulässige Handlungsoption der Beklagten. Anders wäre es gewesen, wenn es sich um eine Scheinaufhebung gehandelt hätte, die dazu gedient hätte, einen anderen Zuschlagskandidaten in die Position des erstplatzierten Bieters zu bringen.

Der Beschluss ist in mindestens zweierlei Hinsicht interessant: Zum einen setzt der Beschluss des BGH die Reihe zivilrechtlicher Forderungen bei Verstößen gegen das Vergaberecht fort und belegt erneut, dass aus Sicht der öffentlichen Auftraggeber die größte Gefahr eigentlich nicht mehr in Nachprüfungsverfahren lauert, denen meist recht einfach abgeholfen werden kann, sondern in zivilrechtlichen Forderungen, die sich nicht selten erst weit nach erfolgter Zuschlagserteilung substantiieren – dies auch, wie im vorliegenden Fall, bei Unterschwellenvergaben. Zum anderen beleuchtet er verschiedene Aspekte des Schadensersatzes, die sich im Zuge einer vergaberechtlich nicht zulässigen Aufhebung ergeben können.

Diese lassen sich auf folgende Faustformel bringen: Hebt eine Vergabestelle in vergaberechtlich unzulässiger Weise auf, ist sie im Regelfall den Bietern zum Ersatz ihrer Aufwendungen (sogenannter kleiner Schadensersatz) verpflichtet. Vergibt sie hiernach ohne erneuten Wettbewerb den gleichen (bzw. einen vergleichbaren Auftrag (vgl. hierzu auch BGH, Urteil vom 03.07.2020, VII ZR 144 / 19) an einen anderen als den Best-Bieter der ursprünglichen Vergabe, ist sie diesem gegenüber auch zum Ersatz des entgangenen Gewinns verpflichtet (sogenannter großer Schadensersatz). Etwas anderes ergibt sich u. U. dann, wenn die erneute Vergabe im Wettbewerb stattfindet, der vorherige Best-Bieter teilnimmt, dort nicht das wirtschaftlichste Angebot abgibt und keine Aspekte darauf hindeuten, dass die Vergabestelle nicht aufgehoben hat, um einem anderen Bieter den Zuschlag zu erteilen.

Wahrscheinlich wird dieser Teilaspekt in zukünftigen Entscheidungen weiter feinjustiert werden.

Mit Blick auf die Darlegung des Schadens hat der BGH für Klarheit gesorgt: Personalkosten für die Angebotserstellung sind auch ohne konkreten Nachweis des Bieters, dass er ohne diesen Aufwand (Angebotserstellung) durch deren Tätigkeit anderweitig Einnahmen erwirtschaftet hätte, ersatzfähig.

Bildquelle: BCFC – shutterstock.com