
Unterschwellenvergabe = Kein Rechtsschutz! Diese Gleichung gilt vielen Vergabestellen noch als Richtschnur im Hinblick auf die Frage, mit welcher Kritikalität ein Vergabeverfahren betrachtet werden sollte. Rasch kann dabei übersehen werden, dass Bietern auch in Unterschwellenvergaben der ordentliche Rechtsweg offensteht und selbst im Oberschwellenbereich der Verzicht auf eine Rüge oder ein Nachprüfungsverfahren einem späteren zivilrechtlichen Vorgehen (bezogen auf Sekundärinteressen wie z.B. Schadensersatz) nicht im Wege steht. Maßgabe sind die bekannten vergaberechtlichen Vorgaben, auch wenn diese im Unterschwellenbereich häufig nur aufgrund einer „freiwilligen Selbstbindung“ zur Anwendung gebracht werden.

Der Autor
Norbert Dippel ist Syndikus der cosinex sowie Rechtsanwalt für Vergaberecht und öffentliches Wirtschaftsrecht. Der Autor und Mitherausgeber diverser vergaberechtlicher Kommentare und Publikationen war viele Jahre als Leiter Recht und Vergabe sowie Prokurist eines Bundesunternehmens tätig.
Bei aufmerksamer Betrachtung der Rechtsprechung rund um das Vergaberecht und auch den im Rahmen dieses Blogs analysierten Beschlüssen und Urteilen zeigt sich eine jedenfalls subjektiv deutliche Zunahme von Entscheidungen zivilrechtlicher Instanzen, ganz überwiegend im Zusammenhang mit dem Versuch der Durchsetzung von Schadensersatzansprüchen unterlegener oder nicht berücksichtigter Bieter, so auch in einem aktuellen Urteil das OLG Koblenz (Urteil vom 07.05.2020, 1 U 772 / 19).
Auch vergaberechtlich ist der Beschluss interessant: Die Abgabe korrigierter Fassungen von Angebotsunterlagen (bspw. der Urkalkulation) sollte mit einem klarstellenden Hinweis verbunden sein, welche Unterlagen zu verwenden bzw. zurückzunehmen sind. Wie ist allerdings damit umzugehen, wenn die Umschläge nicht gekennzeichnet sind? Reicht es aus, wenn die Vergabestelle einen Post-it-Zettel aufbringt? Hierzu hat das OLG Koblenz im vorgenannten Urteil Stellung genommen.
I. Der Sachverhalt
Die Auftraggeberin, eine Verbandsgemeindeverwaltung, hat ein Architekturbüro bei der Durchführung eines Vergabeverfahrens eingeschaltet, hier: beim Umbau einer Kita im Unterschwellenbereich.
Die spätere Klägerin gab das niedrigste Angebot ab. Das Architekturbüro fordert die Klägerin nach Angebotsöffnung gem. § 16 Abs. 2 VOB/A auf, bestimmte Unterlagen, darunter die Urkalkulation, nachzureichen. Dem kam die Klägerin nach und übersandte die Urkalkulation sowohl per Fax, als auch per Bote in einem verschlossenen Umschlag.
Einige Tage später rief die Klägerin bei dem Architekturbüro an, und teilte mit, dass ihr in den Unterlagen ein Fehler unterlaufen sei. Deshalb würde sie die Unterlagen nochmals schicken und bat um einen Austausch der Unterlagen.
Die Klägerin reichte die Unterlagen auf dem gleichen Weg erneut ein. Der Umschlag trug die Aufschrift „Urkalkulation NICHT ÖFFNEN!“. Darüber hinaus war er nicht beschriftet und wurde auch von der Vergabestelle weder beschriftet oder geöffnet. Lediglich ein Post-it-Zettel wurde mit dem Vermerk „Urkalkulation 2. Angebot“ angebracht.
Die Auftraggeberin hat daraufhin das Angebot der Bieterin ausgeschlossen, da es nicht mehr möglich sei, festzustellen, welcher von beiden Umschlägen zuerst eingereicht worden sei. Später wurde noch argumentiert, dass der angebrachte Sperrvermerk eine Öffnung verbiete, was ebenfalls nicht zulässig sei. Außerdem bestünde die Gefahr eines Manipulationsversuches, wenn zwei nicht gekennzeichnete Umschläge mit angebotsrelevanten Unterlagen abgegeben würden.
Die Beklagte erteilte dem zweitplatzierten Unternehmen den Zuschlag und teilte dies der Bieterin mit. Diese sah sich zu Unrecht ausgeschlossen und klagte auf Schadensersatz (§§ 241 Abs. 2, 311 Abs. 2 Nr. 1, 280 Abs. 1 Satz 1 BGB), was das Landgericht in erster Instanz auch bejahte. Hiergegen richtete sich nunmehr die Auftraggeberin vor dem Oberlandesgericht.
II. Die Entscheidung
Nach Ansicht des OLG hat das Landgericht richtig entschieden, dass der Klägerin gegen die Auftraggeberin ein Schadensersatzanspruch nach den §§ 241 Abs. 2, 311 Abs. 2 Nr. 1, 280 Abs. 1 Satz 1 BGB deswegen zusteht, weil die Beklagte die Klägerin zu Unrecht aus dem streitgegenständlichen Ausschreibungsverfahren ausgeschlossen habe.
1. Kein Manipulationsversuch
Die Beklagte durfte insbesondere die Klägerin nicht wegen der behaupteten Unzuverlässigkeit bzw. des Verdachts eines Manipulationsversuches von dem Verfahren ausschließen, weil diese eine korrigierte Fassung eingereicht hat.
Da beide Umschläge von außen nicht unterscheidbar waren, habe das Architekturbüro auf beide Umschläge einen Post-it-Zettel jeweils mit der Beschriftung „1. und 2. Urkalkulation“ geklebt. Damit seien die Umschläge selbst nicht mit einem Vermerk oder einem Eingangsstempel versehen, aber hinsichtlich des zeitlichen Eingangs hinreichend gekennzeichnet worden. Damit habe keine Unklarheit bzw. Verlegenheit für die Vergabestelle vorgelegen, welche der Unterlagen nun Gültigkeit haben sollte und welche nicht.
Ausdrücklich wies das OLG darauf hin, dass die VOB/A die Möglichkeit eröffne, fehlende Erklärungen und Nachweise gem. § 16a VOB/A nachzufordern. Hierzu sei der Auftraggeber verpflichtet, ein Ermessen bestehe nicht. Die nachgereichten Unterlagen seien zu beachten
2. Sperrvermerk ist unbedenklich
Die Aufbringung des Sperrvermerks „Urkalkulation NICHT ÖFFNEN!“ sei vergaberechtlich unbedenklich.
Erkennbar wolle die Bieterin damit zum Ausdruck bringen, dass dieser Umschlag, der die angeforderte Urkalkulation enthielt, nicht sofort nach Übergabe geöffnet werden solle. Eine Öffnung solle erst dann erfolgen, wenn die Urkalkulation relevant werden würde (bei Frage der Abrechnung, Preisänderungen usw.). Damit sei sicherlich nicht gemeint gewesen, dass dieser Umschlag nie zu öffnen sei, was keinen Sinn ergeben hätte. Letztlich wäre die Urkalkulation dem Umschlag zu entnehmen, wenn sie für das Verfahren gebraucht würde, was aber damals noch nicht absehbar war und gegebenenfalls auch gar nicht eintreten konnte.

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III. Hinweise für die Praxis – Nachprüfungsverfahren in der Unterschwelle
Wie eingangs ausgeführt, ist die Entscheidung auch deshalb besprechenswert, weil sie einmal mehr einen Fall des Schadensersatzes betrifft. Aus diesem Grund stellen wir nachfolgend kurz die wesentlichen Voraussetzungen eines Schadensersatzanspruches im Vergaberecht vor:
Durch die Ausschreibung und Angebotsabgabe kommt zwischen Vergabestelle und Bietern ein vorvertragliches Schuldverhältnis zustande. Dabei kommt die Bindung an vergaberechtliche Vorgaben dann zustande, wenn der öffentliche Auftraggeber zur Beachtung der Vergabevorschriften gesetzlich verpflichtet ist (insb. im Oberschwellenbereich) oder sich im Unterschwellenbereich selbst bindet.
Grundsätzlich ist bei einer Verletzung von vorvertraglichen Pflichten im Sinne der §§ 311 Abs. 2, 241 Abs. 2 BGB der Schadensersatz auf den Ersatz des Vertrauensschadens oder negativen Interesses beschränkt, d.h. der Berechtigte ist so zu stellen, als habe er am Ausschreibungsverfahren nicht teilgenommen und alle hierdurch veranlassten Aufwendungen gespart (sog. Angebotserstellungskosten).
In Ausnahmefällen kann aber das Erfüllungsinteresse Maßstab für die Schadensberechnung sein. Danach ist der Geschädigte so zu stellen, als habe er den Auftrag erhalten und erfolgreich, also mit Gewinn, zu Ende geführt. Dies beruht auf dem Gedanken, dass der öffentliche Auftraggeber mit der Anwendung des Vergaberechts und der Durchführung eines entsprechenden Vergabeverfahrens eine gewisse Selbstbindung geschaffen hat (Unterschwellenbereich). Im Oberschwellenbereich ist er ohnehin per Gesetz an das Vergaberecht gebunden. Dies begründet bei den Bietern ein festes Vertrauen darauf, dass diese Selbstbindung auch korrekt eingehalten wird und dass das wirtschaftlichste Angebot zwangsläufig zum Zuge kommt (OLG Köln, Urteil vom 18.06.2010, Az.: 19 U 98/09 Rz. 57, juris).
Das geltend gemachte positive Interesse kann der Bieter nur dann ersetzt verlangen, wenn er bei ordnungsgemäßer Durchführung des Vergabeverfahrens den Zuschlag hätte erhalten müssen (BGH, Urteil vom 25.11.1992, Az.: VIII ZR 170/91 Rn. 12, juris; Urteil vom 03.04.2007, Az.: X ZR 19/06 Rn. 8, juris). Der Bieter trägt die Darlegungs- und Beweislast dafür, dass ihm ohne die Pflichtverletzung des Auftraggebers der Zuschlag erteilt worden wäre (BGH a.a.O.). Außerdem muss der Auftrag tatsächlich erteilt worden sein.
Klassische Anwendungsfälle sind – wie in der vorstehend besprochenen Entscheidung – wenn der eigentlich erstplatzierte Bieter zu Unrecht ausgeschlossen wird. Ebenso, wenn der bezuschlagte Bieter bzw. dessen Angebot eigentlich hätte ausgeschlossen werden müssen.
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Sehr geehrter Herr Schmidt,
zunächst bedanke ich mich für Ihre Anmerkungen bzw. Frage. In der von Ihnen angesprochenen Problematik scheint mir der Schlüssel in dem unterschiedlichen Verständnis des Schadensersatzrechts zu liegen.
Wenn eine Vergabestelle nicht ausschreibt, mag das rechtswidrig sein. Bei rechtswidrigen de-facto-Vergaben ist ein Nachprüfungsverfahren statthaft und die Vergabestelle kann zur Ausschreibung gezwungen werden. Bei Unterschwellenvergaben wäre eine einstweilige Verfügung das Mittel der Wahl. Somit ist der potentielle Anbieter nicht rechtlos.
Demgegenüber ist das Schadensersatzrecht in der deutschen Rechtsordnung lediglich ein Instrument, um einen tatsächlich erlittenen Schaden zu kompensieren. Wenn ich mit der anderen potentiellen Vertragspartei (der Vergabestelle) nie in Kontakt war, ich mir keinerlei Chancen auf den Zuschlag ausrechnen durfte, worin liegt dann mein Schaden? In dem von Ihnen konstruierten Fall werden die Schadenspositionen (Angebotserstellungskosten) gerade in dem Wissen aufgebaut, dass der Auftrag nicht ausgeschrieben wird. Hier wäre es doch angezeigter, die Vergabestelle zur Ausschreibung zu zwingen. Die bei Ihrer Argumentation durchscheinende Funktion „Zwang zur rechtskonformen Ausschreibung“ hat das deutsche Schadensersatzrecht nicht.
Ich hoffe Ihnen mit meiner Antwort weiter geholfen zu haben und verbleibe mit
Mit freundlichen Grüßen
Norbert Dippel
Rechtsanwalt
Sehr geehrter Herr Dippel,
Sie führen in Ihrem Beitrag unter „Nachweise für die Praxis – Nachprüfungsverfahren in der Unterschwelle“ u. a. aus, dass durch die Ausschreibung und der Angebotsabgaben ein vorvertragliches Vertrauensverhältnis zwischen Auftraggeber und Bieter zustande käme.
Doch, wie ist es, wenn ein an einer Ausschreibung Interessierter gar keine Kenntnis von einer (bevorstehenden) Vergabe erhält, und zwar, weil der Auftraggeber seiner Verpflichtung, sie durch eine Auftragsbekanntmachung auf http://www.bund.de ermittelbar zu machen, nachweislich nicht nachgekommen ist?
Unzweifelhaft läge hier ein Verstoß des Auftraggebers vor (§ 28 UVgO). Nach Ihrer Ausführung kommt ein vorvertragliches Vertrauensverhältnis (erst) mit Angebotsabgabe zustande („Bieter“). Das würde ja bedeuten, dass ein an einem Auftrag Interessierter quasi „rechtlos“ wäre, weil er ja möglicherweise durch die Pflichtverletzung gar keine Kenntnis von einem Auftrag erhält und deshalb gar nicht zum Bieter werden kann, was dann eben hieße, dass noch kein vorvertragliches Vertrauensverhältnis vorläge.
Praxisbeispiel:
Interessierter B erfährt von A, dass A den Zuschlag für einen (lukrativen) Auftrag erhalten hat. B weist nach, dass der Auftraggeber seiner Verpflichtung, die Vergabe durch eine (vorherige) Auftragsbekanntmachung auf http://www.bund.de ermittelbar zu machen, nicht nachgekommen war.
Um es auf die Spitze zu treiben:
B macht Schadensersatzansprüche auf entgangenen Gewinn geltend. Er erstellt ein fiktives Angebot, welches er bei Kenntnis über den Bestand eines Auftrags abgegeben hätte. Bei rechtmäßiger Vergabe stellt sich heraus, dass sein Angebot das wirtschaftlichste gewesen wäre und ihm deshalb der Zuschlag hätte erteilt werden müssen.
Natürlich ist mir bewusst, dass er Nachweis schwierig ist. Aber, darum geht es mir (zunächst) nicht.
Wie sehen Sie das? Ist doch gar nicht soweit hergeholt, oder?