Der Vergabesenat bei dem OLG Düsseldorf hat sich in einem jüngeren Beschluss (01.04.2020, Verg 30 / 19) mit zwei praxisnahen Rechtsfragen befassen müssen: Zum einen damit, wann Beanstandungen eines Bieters als Rüge zu werten sind, zum anderen damit, wann eine Erklärung trotz vermeintlicher Eindeutigkeit dennoch einer Auslegung zugänglich ist.

Der Autor

Norbert Dippel ist Syndikus der cosinex sowie Rechtsanwalt für Vergaberecht und öffentliches Wirtschaftsrecht. Der Autor und Mitherausgeber diverser vergaberechtlicher Kommentare und Publikationen war viele Jahre als Leiter Recht und Vergabe sowie Prokurist eines Bundesunternehmens tätig.

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Beide Aspekte werden jeweils in einem eigenen Beitrag vorgestellt. Dieser erste Beitrag befasst sich mit den grundlegenden Ausführungen des OLG dazu, wann von einer Rüge auszugehen ist und welche Anforderungen an eine Rüge zu stellen sind.

I. Der Sachverhalt

Die Vergabestelle schrieb einen Bauauftrag EU-weit aus. Alternativangebote waren zugelassen.

Bis zum Ablauf der Angebotsfrist gaben nur die Bieterin (spätere Antragstellerin) und die spätere Beigeladene Angebote ab. Der Zuschlag sollte auf ein Nebenangebot der Beigeladenen erteilt werden. Nach der Vorabinformation räumte die Vergabestelle unter anderem ein, dass sie das betreffende Nebenangebot im Wege der Angebotsaufklärung intensiv geprüft habe.

Die Bieterin wertete die eingeräumte intensive Prüfung des Nebenangebots durch die Vergabestelle als ein Indiz für die tatsächlich fehlende Gleichwertigkeit des Nebenangebots und rügte diesen Umstand.

Die Vergabestelle wies dieses Vorbringen als unzulässige „Rüge ins Blaue hinein“ zurück. Daraufhin stellte die Bieterin einen Nachprüfungsantrag, ohne dass sie weitere Umstände gerügt hätte. Nach erfolgter Akteneinsicht ging die Bieterin erstmals gegen die vermeintlich fehlende Eignung der Beigeladenen im Nachprüfungsverfahren vor. Zweifelhaft war insbesondere, ob das Formular richtig ausgefüllt war, weil dort keine Unterauftragnehmer angegeben waren und diese erst im Wege der Angebotsaufklärung benannt wurden.

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II. Der Beschluss

Der Vergabesenat stellte fest, dass der Nachprüfungsantrag wegen der ins Blaue hinein erhobenen Rüge unzulässig sei.

1. Die Voraussetzungen einer Rüge

Eingangs stellte der Vergabesenat ausführlich die Anforderungen an eine ordnungsgemäße Rüge dar. Ausgangspunkt sei die besondere Situation des Bieters im Vorfeld eines Nachprüfungsverfahrens: Da ein Bieter naturgemäß nur begrenzten Einblick in den Ablauf des Vergabeverfahrens habe, dürfe er im Vergabenachprüfungsverfahren behaupten, was er auf der Grundlage seines – oft nur beschränkten – Informationsstands redlicherweise für wahrscheinlich oder möglich halten darf. Dies insbesondere, wenn es um Vergaberechtsverstöße gehe, die sich ausschließlich in der Sphäre der Vergabestelle abspielten oder das Angebot eines Mitbewerbers beträfen. Der Antragsteller müsse aber – wenn sich der Vergaberechtsverstoß nicht vollständig seiner Einsichtsmöglichkeit entzöge – zumindest tatsächliche Anhaltspunkte oder Indizien vortragen, die einen hinreichenden Verdacht auf einen bestimmten Vergaberechtsverstoß begründen. Ein Mindestmaß an Substantiierung sei einzuhalten; reine Vermutungen zu eventuellen Vergaberechtsverstößen würden nicht ausreichen.

2. Sinn und Zweck der Rüge

Die Rüge solle einerseits den öffentlichen Auftraggeber in die Lage versetzen, einen etwaigen Vergaberechtsverstoß zeitnah zu korrigieren (Beschleunigung des Vergabeverfahrens, Selbstkontrolle des öffentlichen Auftraggebers). Andererseits sei sie Zugangsvoraussetzung zum Nachprüfungsverfahren. Damit sollten unnötige Verzögerungen des Vergabeverfahrens vermieden und einem Missbrauch des Nachprüfungsverfahrens vorgebeugt werden. Deshalb sei es unabdingbar, dass der Antragsteller bereits frühzeitig diejenigen Umstände benenne, aufgrund derer er vom Vorliegen eines Vergaberechtsverstoßes ausgehe. Aus den genannten Gründen sei dem öffentlichen Auftraggeber in der Regel nicht zuzumuten, auf gänzlich unsubstantiierte Rügen hin in eine (ggf. erneute) Tatsachenermittlung einzutreten. Daher sei der Antragsteller gehalten, schon bei Prüfung der Frage, ob ein Vergaberechtsverstoß zu rügen sei, Erkenntnisquellen auszuschöpfen, die ihm ohne großen Aufwand zur Verfügung stünden. Zudem müsse er, um eine Überprüfung zu ermöglichen, angeben, woher seine Erkenntnisse stammten.

3. Die Rüge „ins Blaue“

Der Vergabesenat legte diese Minimalanforderungen an die Vorgänge in dem konkreten Verfahren an und kam insbesondere zu folgenden Ergebnissen: Soweit die gerügten Vergaberechtsverstöße darauf gestützt wurden, dass die Vergabestelle die Nebenangebote der Beigeladenen nach eigenem Bekunden „intensiv geprüft“ habe, läge kein Anhaltspunkt oder Indiz für einen Vergaberechtsverstoß vor. Vielmehr werde mit dieser Begründung aus Sicht eines mit den Umständen vertrauten Dritten in der Lage der Vergabestelle eine Rüge ohne Substanz und auf bloßen Verdacht hin ins Blaue hinein erhoben. Denn bei einer Auslegung nach dem objektiven Empfängerhorizont beschreibe dies nichts anderes als eine sorgfältige Prüfung, die aber per se kein Hinweis auf einen möglichen Vergaberechtsverstoß darstelle.

Ausdrücklich verwies der Vergabesenat darauf, dass die Bieterin auch im Vorfeld des Vergabeverfahrens keine darüber hinaus gehenden Vergaberechtsverstöße gerügt habe, obwohl sie von ausreichenden Anknüpfungspunkten Kenntnis hatte.

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4. Entbehrlichkeit der Rüge

Abschließend prüfte der Vergabesenat, ob die Rüge im Einzelfall entbehrlich sein könne. Dies wäre dann der Fall, wenn der Bieter nach den Umständen davon ausgehen müsse, dass sie offensichtlich aussichtslos sei. Nach der Rechtsprechung des Senats entfalle die Rügeobliegenheit ausnahmsweise, wenn eine Rüge ihren Zweck nicht mehr erfüllen könne und daher „reine Förmelei“ wäre. Eine solche Konstellation läge vor, wenn der öffentliche Auftraggeber eindeutig zu erkennen gebe, dass er unumstößlich an seiner Entscheidung festhalte und auch auf eine Rüge unter keinen Umständen von seiner Entscheidung abrücken werde.

Diese Voraussetzungen waren hier jedoch nicht gegeben. Die Vergabestelle hatte bis zur Einleitung des Vergabenachprüfungsverfahrens – spätere Äußerungen sind regelmäßig nicht zu berücksichtigen – nicht zu verstehen gegeben, sich mit einer sachlich begründeten Rüge der Antragstellerin nicht mehr auseinandersetzen und deren Argumente nicht mehr würdigen zu wollen. Sie hat die Rügen der Bieterin im Ergebnis zutreffend – vielmehr nur als Rügen ins Blaue hinein – zurückgewiesen.

5. Keine Rüge im Nachprüfungsverfahren

Anders lag der Fall bei der Rüge, dass der Beigeladenen die Eignung fehle. Bis zur Einleitung des Nachprüfungsverfahrens wusste die Bieterin nichts davon, dass die Beigeladene erklärt hatte, die Leistung selbst zu erbringen, obwohl sie bezogen auf ausschreibungsgegenständliche Rohrvortriebsarbeiten technisch nicht in der Lage dazu sei. Von diesem Umstand habe sie erst im Verlauf des Vergabenachprüfungsverfahrens durch Einsichtnahme in die Vergabeakte erfahren. Zu diesem Zeitpunkt musste sie, weil das Vergabenachprüfungsverfahren bereits eingeleitet war, keine gesonderte Rüge mehr erheben, weil sich ein Nachprüfungsverfahren dadurch nicht mehr vermeiden ließ.

Ein Ausschluss der Bieterin mit der Rüge fehlender Eignung der Beigeladenen folge auch nicht daraus, dass ihr Nachprüfungsantrag, soweit sie ihn in der Beschwerdeinstanz noch weiterverfolge, im Übrigen unzulässig sei. Ein ursprünglich unzulässiger Nachprüfungsantrag wird durch Nachschieben einer zulässigen vergaberechtlichen Beanstandung teilweise zulässig.

III. Hinweise für die Praxis

Die Schaffung von klaren Verhältnissen bei der Frage, ob eine Beanstandung als Rüge zu werten ist, liegt sowohl im Interesse des Bieters, als auch der Vergabestelle, denn letztlich dient dies der Rechtssicherheit in dem Vergabeverfahren. Für die Vergabestelle kann es bedeutsam sein, eine Beanstandung als Rüge zu werten, da dann die Frist gem. § 160 Abs. 3 Nr. 4 GWB in Gang gesetzt wird: Sind mehr als 15 Kalendertage nach Eingang der Mitteilung des Auftraggebers, einer Rüge nicht abhelfen zu wollen, vergangen, wäre ein danach gestellter Nachprüfungsantrag unzulässig. Insoweit kann die Vergabestelle 15 Kalendertage nach der Nichtabhilfe-Mitteilung davon ausgehen, dass das Vergabeverfahren jedenfalls aus dem gerügten Grund und durch den Rügenden nicht mehr angreifbar ist. Wird ein Nachprüfungsantrag gestellt, dient das der Klärung und oftmals gilt: Je früher desto besser.

Bieter versuchen manchmal, diesen Mechanismus zu umgehen. Beanstandungen werden bewusst so formuliert, dass sie zwar die Vergabestelle auf das Problem hinweisen, aber nicht unbedingt als Rüge zu werten sind. Vergabestellen sind gut beraten, hier eine Klärung herbeizuführen. Im Zweifel kann eine Vergabestelle durchaus eine Antwort auf eine unklare Beanstandung mit folgenden Worten einleiten: „Vielen Dank für Ihr Schreiben vom XYZ, welches wir als Rüge werten….“. Es ist nun Sache des Bieters, seinerseits hierauf eine klare Antwort zu geben. Ein solches Vorgehen schafft im Sinne der Rechtssicherheit für alle Beteiligten jedenfalls klare Verhältnisse.

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