Welche Vergabestelle kennt die Situation nicht? Das Verfahren zieht sich und die Angebote drohen aus der Bindefrist zu laufen. Ein probates Mittel ist, von den Bietern eine Verlängerung der Angebotsbindefrist einzufordern. Aber wie ist damit umzugehen, wenn ein Bieter diese Erklärung nicht abgibt und zum Zeitpunkt der Angebotsabgabe die Bindefrist formal überschritten ist?
Der Autor
Norbert Dippel ist Syndikus der cosinex sowie Rechtsanwalt für Vergaberecht und öffentliches Wirtschaftsrecht. Der Autor und Mitherausgeber diverser vergaberechtlicher Kommentare und Publikationen war viele Jahre als Leiter Recht und Vergabe sowie Prokurist eines Bundesunternehmens tätig.
Der Vergabesenat des OLG Celle hat sich mit dieser Frage befasst und entschieden, dass der öffentliche Auftraggeber grundsätzlich nicht daran gehindert ist – und unter Geltung des öffentlichen Haushaltsrechts im Einzelfall sogar dazu gehalten sein kann – den Zuschlag auf ein Angebot nach Ablauf der Bindefrist zu erteilen (Beschluss vom 30.01.2020, 13 Verg 14 / 19).
I. Der Sachverhalt
Die Vergabestelle schrieb einen Auftrag über die Lieferung von Materialien und Logistik für den Breitbandausbau europaweit im offenen Verfahren aus. Nach den Leistungsverzeichnissen waren für die Lieferung Festpreise anzubieten, die Gültigkeit für die gesamte Laufzeit der Rahmenverträge bis zum Ende des Jahres 2022 haben.
Im Juli 2019 forderte die Vergabestelle über eine elektronische Vergabeplattform die Bieter auf, die Verlängerung der Bindefrist ihrer Angebote mittels eines beigefügten Vordrucks über die Plattform zu erklären.
Eine Bieterin reichte zwar verschiedene, ebenfalls geforderte Dokumente nach. Eine ausdrückliche Bestätigung der Verlängerung der Bindefrist gab sie aber nicht ab. Aus diesem Grund wurde ihr Angebot für bestimmte Lose von der Wertung ausgeschlossen.
Daraufhin rügte die Bieterin den Ausschluss und reichte die Bestätigung der Bindefristverlängerung auf dem ursprünglichen Vordruck der Vergabestelle nach. Nachdem der Rüge nicht abgeholfen wurde, stellte die Bieterin einen Nachprüfungsantrag, der allerdings von der Vergabekammer zurückgewiesen wurde. Die Vergabekammer war der Ansicht, dass die Vergabestelle gemäß § 57 Abs. 1 Nr. 2, 4 VgV ohne eigenes Ermessen verpflichtet gewesen sei, das Angebot der Bieterin auszuschließen, weil diese der Aufforderung zur Verlängerung der Bindefrist nicht nachgekommen sei.
II. Die Entscheidung des OLG
Der Vergabesenat sah dies anders: Die sofortige Beschwerde hatte Erfolg.
1. Antragsbefugnis bei überschrittener Bindefrist
Im Rahmen der Zulässigkeit hat das OLG zunächst geprüft, ob die Bieterin überhaupt (noch) ein Interesse an dem Auftrag hat, was nach § 160 Abs. 2 GWB u.a. Voraussetzung der Antragsbefugnis ist. Dagegen könnte sprechen, dass aus der nicht erfolgten Zustimmung der Bindefristverlängerung gefolgert werden könne, die Bieterin habe kein Interesse (mehr) am Auftrag.
Die wohl herrschende Auffassung in Rechtsprechung und juristischer Literatur bejahe das Fortbestehen der Antragsbefugnis in derartigen Fällen. Tragender Grund sei, dass eine Zuschlagserteilung auch noch nach Ablauf der Bindefrist möglich sei. Hätte ein Bieter einer Fristverlängerung nicht zugestimmt, so sei er zwar nach § 148 BGB nicht mehr an sein Angebot gebunden. Ein ihm gleichwohl erteilter Zuschlag führe jedoch zum Vertragsschluss, wenn er das in der Zuschlagserklärung liegende neue Vertragsangebot des Auftraggebers (§ 150 BGB) annehme. Der Tatsache, dass ein Bieter einer Bindefristverlängerung nicht zustimme, könne nicht zwingend entnommen werden, dass er kein Interesse mehr an der Auftragserteilung habe. Vielmehr bringe er mit seinem Nachprüfungsantrag deutlich das Gegenteil zum Ausdruck. Das bloße Schweigen könne deshalb nicht ohne weiteres als Ablehnung gedeutet werden, mit der Vergabestelle einen Vertrag zu den zunächst angebotenen Konditionen abschließen zu wollen. Das durch Einleitung des Nachprüfungsverfahrens indizierte fortbestehende Interesse am Auftrag sowie die vom Antragsteller im Verlauf des Verfahrens ausdrücklich erbrachte Erklärung, am Angebot festhalten zu wollen, reichten nach dieser Auffassung demzufolge aus, um ein Fortbestehen der Antragsbefugnis anzunehmen.
Nach anderer Ansicht sei im Interesse aller Beteiligten sowie zur Vermeidung unnötiger Verzögerungen und zur Schaffung klarer Verhältnisse ein unbedingtes Interesse an der Auftragserteilung erforderlich. Das fehle einem Antragsteller, der sich bewusst die Möglichkeit offenlasse, nach Abschluss des Nachprüfungsverfahrens und nach Zuschlagserteilung ein darin liegendes neues Angebot abzulehnen. Wer der Fristverlängerung nicht zustimme, bringe unmissverständlich zum Ausdruck, dass er sich an sein Angebot nicht mehr gebunden fühle. Dies sei mit der Annahme eines Interesses im Sinne des § 160 Abs. 2 GWB nicht zu vereinbaren. Es könne der Vergabestelle nicht zugemutet werden, dass ein Bieter, der nach ausdrücklicher Aufforderung zur Bindefristverlängerung seine Zustimmung nicht erteilt habe, diese Frist zu einem späteren Zeitpunkt einseitig verlängern zu können. Denn somit hätte er es in der Hand, sich zwar nicht mehr an sein Angebot zu binden, sich aber offenzuhalten, ob er den Zuschlag der Vergabestelle zu einem späteren Zeitpunkt annehme. Der Bieter sei insoweit nicht schützenswert, denn es sei kein Grund ersichtlich, eine derartige Missbrauchsmöglichkeit zu eröffnen und das Vergabeverfahren hinsichtlich der Bindung an die Angebote „unsicher zu stellen“.
Der Vergabesenat schloss sich der erstgenannten Ansicht an. Für das Fortbestehen der Antragsbefugnis spreche insbesondere, dass die Bieterin durchgängig mit der Rüge, dem Nachprüfungsantrag und der Beschwerde ihr fortbestehendes Interesse an der Auftragsvergabe bekundet habe.
2. Kein wirksamer Ausschluss der Angebote
Im Rahmen der Begründetheit stellte der Vergabesenat zunächst fest, dass das Angebot infolge der nicht verlängerten Bindefrist nicht „erloschen“ sei und deshalb nicht hätte ausgeschlossen werden dürfen. Insoweit fehle es an einer Ermächtigungsgrundlage für den Ausschluss.
3. Kein Ausschluss gemäß § 57 Abs. 1 Nr. 4 , 2 VgV
Ferner stellte der Vergabesenat fest, dass die unterlassene Erklärung der Bindefristverlängerung keine Änderung oder Ergänzung der Vergabeunterlagen i.S. von § 57 Abs. 1 Nr. 4 VgV darstelle, weshalb ein Ausschluss damit nicht begründet werden könne.
Auch käme vorliegend ein Ausschluss mit der Begründung, das Angebot habe nicht die geforderten oder nachgeforderten Unterlagen enthalten (§ 57 Abs. 1 Nr. 2 VgV), nicht in Betracht. Der Begriff der „Unterlagen“ entspreche demjenigen in § 48 Abs. 1 VgV und umfasse demnach „Eigenerklärungen, Angaben, Bescheinigungen und sonstige Nachweise“. Diese Unterlagen müssten zulässig gefordert oder nachgefordert worden sein. Die Fristverlängerung war weder in den Vergabeunterlagen gefordert worden, noch handele es sich um einen Fall einer Nachforderung von unternehmens- oder leistungsbezogenen Unterlagen gemäß § 56 Abs. 2 VgV. Die Abgabe einer neuen Erklärung zur Verlängerung der Bindefrist, die nicht Gegenstand der ursprünglichen Vergabebedingungen gewesen sei, falle nicht unter diese Vorschrift und damit auch nicht unter § 57 Abs. 1 Nr. 2 VgV.
4. Kein Ausschluss gemäß § 57 Abs. 1 Nr. 1 VgV
Auch sei § 57 Abs. 1 Nr. 1 VgV schon deshalb nicht einschlägig, weil die Angebote der Bieterin nach Ansicht des Vergabesenats unstreitig sowohl form-, als auch insbesondere fristgerecht eingereicht worden seien. Dabei untersuchte der Vergabesenat die folgenden Einzelaspekte, wobei er sich intensiv mit der Rechtsprechung des BGH auseinandersetzte.
5. Zivil- und vergaberechtliche Bedeutung der Bindefrist
Die Vergabestelle dürfe die Angebote der Antragstellerin schließlich auch nicht mit der bloßen Begründung ausschließen, eine Wertung der Angebote scheide wegen der unterlassenen Verlängerung der Bindefrist aus. Das zivilrechtliche Erlöschen eines Angebots führe nicht dazu, dass es auch vergaberechtlich unbeachtlich wäre. Zwar könnten die ursprünglichen Angebote der Bieterin mit dem Zuschlag nicht mehr unmittelbar angenommen werden, weil sie mit Ablauf der Bindefrist gemäß §§ 146, 148 BGB nicht mehr existent seien.
Diese zivilrechtliche Wertung führe allerdings nicht dazu, dass die Angebote auch vergaberechtlich hinfällig und deshalb von der Wertung ausgeschlossen seien. Vielmehr entspreche es gefestigter Rechtsprechung auch des Bundesgerichtshofs, dass der Auftraggeber nicht daran gehindert sei und unter der Geltung des öffentlichen Haushaltsrechts im Einzelfall sogar dazu gehalten sein könne, den Zuschlag auf ein verfristetes Angebot zu erteilen. Mit den haushaltsrechtlichen Bindungen, denen der Auftraggeber unterliege, sei in der Regel unvereinbar, das wirtschaftlichste Angebot von der Wertung nur deshalb auszunehmen, weil darauf der Zuschlag nicht mehr durch einfache Annahmeerklärung erteilt werden könne, sondern ein eigener Antrag des Auftraggebers und die Annahme durch den Bieter nötig seien (u.a. unter Hinweis auf: vgl. BGH, Urteil vom 28.Oktober 2003 – X ZR 248/02, juris Rn. 11 ff.; OLG Düsseldorf, Beschluss vom 20. Februar 2007 – VII-Verg 3/07, juris Rn. 5). Dies habe jedenfalls dann zu gelten, wenn – wie hier – die Vergabeunterlagen einen Ausschluss verfristeter Angebote nicht vorschrieben und das fragliche Angebot seinem Inhalt nach unverändert sei. Anders könne dies allenfalls dann zu beurteilen sein, wenn Rechte von Mitbewerbern, insbesondere Gleichbehandlungsrechte, beeinträchtigt sein können. Bei verspätet erteilten Zuschlägen kommt es daher entscheidend auf die Umstände des Einzelfalls an, ob ein Vergaberechtsverstoß vorliegt.
6. Keine Verletzung des Gleichbehandlungsgrundsatzes
Vorliegend sah der Vergabesenat den Gleichbehandlungsgrundsatz durch den Verbleib des in Rede stehenden Angebots in der Wertung gegenüber denjenigen Wettbewerbern nicht verletzt, die der Bindefristverlängerung zugestimmt hatten.
Als Ausgangspunkt stellte das Gericht fest, dass die übrigen Wettbewerber mit der Verlängerung der Bindefrist der Fortgeltung ihrer Preise bis zum Zeitpunkt des beabsichtigten Zuschlags zugestimmt hätten. Dies sei in Kenntnis der ggf. volatilen Preisbildung geschehen.
Mit der anschließenden Verzögerung durch das Nachprüfungsverfahren müsse in jedem Vergabeverfahren gerechnet werden. Sie führe nicht dazu, dass die – aus den o.g. Gründen mögliche und unter Umständen sogar haushaltsrechtlich gebotene – Berücksichtigung des Angebots der Bieterin den Gleichbehandlungsgrundsatz verletze. Im Gegenteil: Wenn man davon ausginge, dass die verzögerte Vergabe stets Mehrvergütungsansprüche des erfolgreichen Bieters auslösen könne, so bestünden diese Ansprüche auch für die derzeitigen Zuschlagskandidaten. Ginge man allerdings davon aus, dass eine Auftragserteilung an die Bieterin – jedenfalls bei entsprechender Formulierung des von der Vergabestelle ausgehenden neuen Angebots – nur zu den Konditionen des ursprünglichen Angebots erfolgen könne, so entstünden den übrigen Bietern daraus keine (weiteren) Nachteile. Die vermeintlichen – im Einzelnen streitigen – wirtschaftlichen Folgen der Verzögerung infolge der Volatilität der Einkaufspreise für Lichtschwellenleiter aus Glasfaser und der Erdölpreise sowie infolge der aktuellen großen Nachfrage nach Leistungen bei der Breitbandverkabelung träfen dann sämtliche Bieter gleichermaßen. Durch eine Verlängerung der Bindefrist nach deren Ablauf werde der Gleichbehandlungs- und Wettbewerbsgrundsatz gewahrt, sofern allen noch in Frage kommenden Bietern die Möglichkeit eröffnet werde, weiterhin am Vergabeverfahren teilzunehmen (vgl. Dreher/Motzke, Beck’scher Vergaberechtskommentar, 2. Aufl. 2013, § 10 VOB/A Rn. 101; Dieckmann/Scharf/Wagner-Cardenal/Wagner-Cardenal, 2. Aufl. 2019, VgV § 20 Rn. 71).
Nichts anderes könne für den hier vorliegenden Fall gelten, dass eine Verlängerung der Bindefrist zwar nicht erfolgt sei, aber der Vertragsschluss jedenfalls nach wie vor aus den o.g. Gründen zu den Konditionen des ursprünglichen Angebots erfolgen könne. Unter Verweis auf die BGH-Rechtsprechung könne laut Vergabesenat von den Bietern die Erkenntnis erwartet werden, dass die öffentliche Hand verpflichtet sei, für die sparsame und effiziente Verwendung der von den Bürgern aufgebrachten Mittel zu sorgen. Dementsprechend könne sie sogar verpflichtet sein, die in § 150 Abs. 1 BGB vorgesehene Möglichkeit zur Bezuschlagung eines erloschenen Angebots im Wege eines neuen Angebots zu nutzen. Dies gelte aber nur, wenn der sachliche Inhalt des betreffenden Angebots sich als der annehmbarste darstelle. Die Rechte der Mitbewerber oder das, worauf sie berechtigterweise vertrauen dürften, seien unter diesen Umständen erst dann berührt, wenn das ursprüngliche Angebot der Antragstellerin eine sachliche Änderung im Inhalt hätte erfahren sollen. Dies sei hier aus den vorgenannten Gründen gerade nicht der Fall.
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III. Hinweise für die Praxis
Aus haushalterischer Sicht mag es sinnvoll sein, Angebote trotz abgelaufener Bindefrist in der Wertung zu belassen. Gleichwohl ist es nicht von der Hand zu weisen, dass sämtliche Bieter, die einer Bindefristverlängerung zugestimmt haben, ohne Wenn und Aber an ihr Angebot gebunden sind. Demgegenüber hat der Bieter mit der abgelaufenen Bindefrist eine weitergehende Freiheit. Er kann unter Berücksichtigung der dann bestehenden Auftragslage entscheiden, ob er den Zuschlag in Form eines neuen Angebotes „annehmen“ möchte oder nicht. Dass dieser Unterschied keine Ungleichbehandlung darstellt, kann man vielleicht auch anders sehen.
Auch aus Sicht der Vergabestelle ist es nicht unproblematisch, das Angebot trotz abgelaufener Bindefrist als Zuschlagskandidat auszuwählen. Schließlich müsste die Vorabinformation gem. § 134 GWB widerholt werden, wenn der Bieter nicht mehr zu seinem Angebot steht. Verzögerungen und ggf. weitere Friktionen wären die Folge.
Ausdrücklich hat der Vergabesenat offengelassen, ob es vergaberechtlich zulässig wäre, die Bestätigung der Bindefristverlängerung mit einer Ankündigung zu verbinden, bereits vorliegende Angebote bei Nichteingang der Bestätigung auszuschließen. Sollte eine derartige Klausel zulässig sein, könnte die Vergabestelle zumindest sicher sein, dass zum Zeitpunkt der Angebotswertung sämtliche Bieter zu ihrem Angebot stehen.
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