Bestimmte Vergabeverstöße, wie insbesondere eine unterbliebene Mitteilung nach § 134 GWB oder das vergaberechtswidrige Unterlassen einer EU-weiten Bekanntmachung, können nach § 135 GWB die sog. „schwebende Unwirksamkeit“ eines geschlossenen Vertrages zur Folge haben. Dies führt neben anderen Voraussetzungen aber erst dann zur Unwirksamkeit, wenn letztere in einem Nachprüfungsverfahren festgestellt wurden.
Der Autor
Norbert Dippel ist Syndikus der cosinex sowie Rechtsanwalt für Vergaberecht und öffentliches Wirtschaftsrecht. Der Autor und Mitherausgeber diverser vergaberechtlicher Kommentare und Publikationen war viele Jahre als Leiter Recht und Vergabe sowie Prokurist eines Bundesunternehmens tätig.
Der Vergabesenat des OLG Düsseldorf hat in einer kürzlich ergangenen Entscheidung (v. 11.12.2019, Verg 53 / 18) betont, dass für einen derartigen Feststellungsantrag zwei Voraussetzungen erfüllt sein müssten: Zum einen die Darstellung des Unwirksamkeitsgrundes, zum anderen müsse zusätzlich – wie bei jedem anderen Nachprüfungsantrag auch – dargestellt werden, dass durch weitere Vergabeverstöße die Zuschlagschancen des Antragstellers beeinträchtigt wurden.
I. Der Sachverhalt
Die Vergabestelle schrieb in einem EU-weiten Vergabeverfahren die Lieferung und bauliche Integration eines Laborsterilisators aus.
Mit Telefax teilte die Vergabestelle einer Bieterin u.a. mit, dass sie einem Konkurrenzunternehmen der Bieterin nach einer bestimmten Frist den Zuschlag erteilen werde.
Daraufhin wandte sich die Bieterin acht Tage später mit Schreiben sowohl an die Vergabestelle, als auch an die Vergabekammer und beanstandete die Vergabeentscheidung. Die Schreiben schlossen jeweils mit folgender Formulierung:
„Dieses Schreiben ist ausdrücklich im Sinne eines Nachprüfungsantrags als sofortige Rüge zu behandeln.“
Im weiteren Verlauf erteilte die Vergabestelle nach Ablauf der von ihr benannten Frist den Zuschlag. Nachdem die Vergabekammer der Bieterin mitgeteilt hatte, dass sie das vorstehende Schreiben lediglich als Rüge ansehe, reichte sie einen Nachprüfungsantrag ein. Darin beantragte sie u.a. die Feststellung, dass der aufgrund der Vergabeentscheidung geschlossene Vertrag unwirksam sei. Eine weitergehende Begründung zur vermeintlichen Unwirksamkeit unterblieb allerdings.
Die Vergabekammer sah davon ab, den Nachprüfungsantrag der Antragsgegnerin zuzustellen und verwarf ihn als offensichtlich unzulässig, weil die Vergabekammer den wirksam erteilten Zuschlag nicht aufheben könne. Der Nachprüfungsantrag sei deshalb nicht statthaft.
Hiergegen richtet sich die eingegangene sofortige Beschwerde der Bieterin.
II. Die Entscheidung zur Statthaftigkeit
Der Vergabesenat hielt demgegenüber den Nachprüfungsantrag für statthaft: Insbesondere stehe der Statthaftigkeit des Nachprüfungsantrags der an das andere Unternehmen erteilte Zuschlag nicht entgegen.
Zwar sei ein Nachprüfungsantrag nach § 160 Abs. 1 GWB grundsätzlich nur solange der statthafte Rechtsbehelf, wie ein Vergabeverfahren noch nicht durch einen wirksam erteilten Zuschlag beendet wurde. Eine Ausnahme gelte aber in den beiden in § 135 Abs. 1 GWB geregelten Fällen, in denen der Zuschlag zunächst nur zu einem schwebend wirksamen Vertrag führe. § 168 Abs. 2 Satz 1 GWB regele den Grundsatz, wonach ein wirksam erteilter Zuschlag nicht aufgehoben werden könne. Dies gelte aber nicht, wenn einer der in § 135 Abs. 1 GWB genannten Fälle vorläge und dies in einem Nachprüfungsverfahren festgestellt worden sei. Im Ergebnis treffe § 168 Abs. 2 Satz 1 GWB nur für den endgültig wirksam erteilten Zuschlag eine Aussage. Über das Vorliegen einer der in § 135 Abs. 1 GWB genannten Vergaberechtsverstöße sei aber noch nicht im Rahmen der Prüfung der Statthaftigkeit des Nachprüfungsantrags abschließend zu entscheiden, sondern im Rahmen der Begründetheit, wenn der Nachprüfungsantrag im Übrigen zulässig ist.
III. Die Entscheidung zur Unzulässigkeit
Der Vergabesenat stellte fest, dass der statthafte Nachprüfungsantrag unzulässig sei, weil der Bieterin die im § 160 Abs. 2 GWB geforderte Antragsbefugnis fehle. Nur dasjenige Unternehmen sei antragsbefugt, das mit seinem Nachprüfungsantrag eine Verletzung in seinen Rechten nach § 97 Abs. 6 GWB durch Nichtbeachtung von Vergabevorschriften geltend mache.
Im Fall eines Nachprüfungsantrags nach § 160 Abs. 1 i.V.m. § 135 GWB müsse sich diese Geltendmachung auf mindestens zwei Vergaberechtsverstöße beziehen:
- Erstens auf einen der Verstöße, die in § 135 Abs. 1 GWB genannt seien und damit den Weg in den Primärrechtsschutz trotz geschlossenen Vertrages erst eröffnen.
- Zweitens auf sonstige Vergaberechtsverstöße i.S. des § 160 GWB.
Erst diese Letzteren, nicht aber allein die in § 135 Abs. 1 GWB genannten Verstöße, könnten zu einer Beeinträchtigung von Zuschlagschancen führen und damit einen zumindest drohenden Schaden im Sinne von § 160 Abs. 2 Satz 2 GWB begründen, den das antragstellende Unternehmen darlegen muss.
Der Vergabesenat hat aus der Darstellung des allgemeinen Grundsatzes die folgenden Konstellationen gebildet.
1. Konstellation 1
In der ersten Konstellation wird das Nachprüfungsbegehren einzig auf die Unwirksamkeitsgründe des § 135 Abs. 1 GWB und damit nur auf die Feststellung der Unwirksamkeit eines Vertragsschlusses gestützt. Dieser Nachprüfungsantrag sei wegen fehlender Antragsbefugnis unzulässig, wenn darüber hinaus keine sonstigen Verstöße gegen Vergabevorschriften geltend gemacht würden und damit nicht um einen über die Unwirksamkeitsfeststellung hinausgehenden Primärrechtsschutz nachgesucht werde.
2. Konstellation 2
Die zweite Konstellation betrifft den umgekehrten Fall: Demnach genüge es für die Antragsbefugnis eines Nachprüfungsantrags nach § 160 Abs. 1 i.V.m. § 135 GWB nicht, wenn ein Unternehmen nur für die Zuschlagsentscheidung relevante Vergaberechtsverstöße rüge, aber keinen der in § 135 Abs. 1 GWB genannten Verstöße geltend mache. Denn auch in diesem Fall fehle es an der Darlegung eines Schadens. Sei die Wirksamkeit eines geschlossenen Vertrags aufgrund eines in § 135 Abs. 1 GWB genannten Vergaberechtsverstoßes nicht zumindest noch in der Schwebe, komme eine Zuschlagserteilung an das antragstellende Unternehmen nicht mehr in Betracht. Der beanstandete Vertragsschluss habe vielmehr nach § 168 Abs. 2 Satz 1 GWB Bestand und der Weg in den Primärrechtsschutz bleibe verschlossen.
3. Auf den Fall bezogen
Im vorliegenden Fall ging der Vergabesenat von der Unzulässigkeit des Nachprüfungsantrages aus, weil die Bieterin keinen der in § 135 Abs. 1 GWB genannten Vergaberechtsverstöße geltend gemacht habe.
Ergänzend wies der Senat darauf hin, dass der Nachprüfungsantrag auch dann erfolglos geblieben wäre, wenn die Antragstellerin den Anforderungen des § 160 Abs. 2 Satz 1 GWB genügt hätte. Denn tatsächlich lag keiner der Fälle des § 135 Abs. 1 GWB vor.
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IV. Hinweise für die Praxis
Die Wirksamkeit geschlossener Verträge ist in unserer Rechtsordnung ein hohes Gut. Der alte Rechtssatz „pacta sunt servanda“ findet im vergaberechtlichen Kontext nur bei besonders schweren Vergabefehlern gem. § 135 Abs. 1 GWB seine Grenzen. Nach den Voraussetzungen des § 135 GWB kann die Unwirksamkeit des bis dahin schwebend unwirksamen Vertrages in den Grenzen des § 135 GWB festgestellt werden. Das grundsätzliche Interesse an der Rechtswirksamkeit eines geschlossenen Vertrages zwischen den Vertragspartnern und das Interesse an der Möglichkeit des Primärrechtsschutzes unterlegener Bieter werden damit in Ausgleich gebracht.
Der vergaberechtliche Rechtsschutz ist so ausgestaltet, dass er nur die Rechte desjenigen schützt, der durch einen vermeintlichen Vergabefehler in seinen Chancen auf den Zuschlag geschmälert wurde (…dass dem Unternehmen durch die behauptete Verletzung der Vergabevorschriften ein Schaden entstanden ist oder zu entstehen droht; § 160 Abs. 2 Satz 2 GWB).
Vergegenwärtigt man sich diese beiden Grundsätze, ist die vorstehende Entscheidung zwingend. Zu einem Nachprüfungsantrag in der besonderen Situation eines bereits geschlossenen Vertrages gehören zwei Elemente, nämlich
- die Darstellung des Unwirksamkeitsgrundes gem. § 135 Abs. 1 GWB und
- die Geltendmachung eines sonstigen Vergabeverstoßes im Sinne des § 160 Abs. 2 GWB, der die Chancen des Antragsstellers auf den Zuschlag schmälert.
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