Die Grundlogik des deutschen Vergaberechts sieht eine Zweiteilung vor: Im EU-Vergaberecht (oberhalb sogen. EU-Schwellenwerte) verfügt der Bieter gem. § 97 Abs. 6 GWB über subjektive Rechte, die er ggf. auch im Wege eines Nachprüfungsverfahrens durchsetzen kann. Im sog. Unterschwellenbereich resultiert der Anwendungsbefehl aus dem Haushaltsrecht. Da hier eine dem § 97 Abs. 6 GWB vergleichbare gesetzliche Grundlage fehlt, hat der Bieter grundsätzlich keine subjektiven Rechte und kann sie dementsprechend auch im Wege eines Nachprüfungsverfahrens nicht durchsetzen.
Der Autor
Norbert Dippel ist Syndikus der cosinex sowie Rechtsanwalt für Vergaberecht und öffentliches Wirtschaftsrecht. Der Autor und Mitherausgeber diverser vergaberechtlicher Kommentare und Publikationen war viele Jahre als Leiter Recht und Vergabe sowie Prokurist eines Bundesunternehmens tätig.
Diese strikte Zweiteilung wird immer weiter aufgeweicht, wobei sich insbesondere die Zivilgerichte im Rahmen von Schadensersatzprozessen mit der Rechtsstellung der Bieter in Unterschwellenvergaben auseinandersetzen.
Als weiteren Schritt in diese Richtung hat nunmehr das LG Oldenburg im Rahmen einer sog. prozessleitenden Anordnung (vom 02.10.2019, 5 O 1810 / 19) faktisch auch im Unterschwellenbereich ein Akteneinsichtsrecht bezogen auf den Vergabevermerk angenommen.
Der Sachverhalt
Im Rahmen eines Zivilrechtsstreits stellte sich die Frage nach der Rechtmäßigkeit eines Vergabeverfahrens. Vergabegegenstand war eine Bauleistung unterhalb des Schwellenwertes. Von wohl entscheidender Bedeutung war der Vergabevermerk.
Die Entscheidung
Zivilprozessualer Hintergrund sind §§ 273 Abs. 2 Nr. 5 ZPO i.V.m. 142 ZPO, wonach das Gericht zur Vorbereitung eines Termins sachdienliche Maßnahmen treffen kann. Hierzu gehört auch die Anordnung, dass eine Partei oder ein Dritter die in ihrem oder seinem Besitz befindlichen Urkunden und sonstigen Unterlagen, auf die sich eine Partei bezogen hat, vorlegt.
Auf dieser Grundlage hat das LG Oldenburg im Rahmen einer prozessleitenden Anordnung entschieden:
- die dem Vergabeverfahren zu Grunde liegende Dokumentation binnen einer Frist von zwei Wochen vorzulegen und
- der Klägerin die Einsichtnahme in diese Unterlagen zu gestatten.
Als Ausgangspunkt seiner Überlegungen hat das Gericht festgestellt, dass die Einsichtnahme in die Dokumentation zur Wahrung des Anspruchs der Klägerin auf rechtliches Gehör im Vergabeverfahren geboten sei. Nicht nur in den Vergabeverfahren oberhalb der Schwellenwerte, sondern auch im Rahmen eines Zivilrechtsstreits bei Vergabeverfahren unterhalb der Schwellenwerte könnten die sich aus § 20 VOB/A ergebenden Unterlagen zur Prüfung der Rechtmäßigkeit des Vergabeverfahrens angefordert werden. Zwar sei dafür nicht § 163 GWB einschlägig. Jedoch ergebe sich dies daraus, dass der ausgeschlossene Bieter einen Anspruch darauf habe, die Entscheidung der Vergabestellen nachzuprüfen.
Die Pflicht des Auftraggebers zur Erstellung einer den Anforderungen des § 20 Abs. 1, Abs. 2 VOB/A genügenden Dokumentation folge aus den für das Vergaberecht grundlegenden Geboten der Transparenz und Gleichbehandlung. Die Dokumentation diene daher (neben der Sicherstellung der Nachprüfbarkeit für die Rechnungsprüfungsbehörden) vor allem auch dem Schutz des Bieters. Dieser habe ein subjektives Recht auf deren Erstellung entsprechend den Maßgaben der VOB/A. Insofern könne die Dokumentation in zivilrechtlichen Schadensersatzprozessen als Beweismittel verwendet werden (unter Hinweis auf: Kapellmann/Messerschmidt/Schneider, 6. Aufl. 2017, VOB/A § 20 Rn. 4 f.).
Noch mehr Vergabewissen von Praktikern für Praktiker erhalten Sie in der cosinex Akademie. Dies sind die anstehenden Seminare von Norbert Dippel:
- 29. Oktober: Der Ausschluss im Vergaberecht »
- 26. November: Neu in der Vergabestelle »
- 3. Dezember: Einführung in das Vergaberecht »
Anmerkungen zur Entscheidung des Landgerichts
Bei der Einsicht in den Vergabevermerk ist nach Vergabekammer und Antragsteller zu unterscheiden.
Für Vergabekammern gilt im Oberschwellenbereich der sog. Untersuchungs- bzw. Amtsermittlungsgrundsatz: Im Kern besagt dieser, dass die Vergabekammer den Sachverhalt von Amts wegen zu erforschen hat. Dementsprechend muss sie alle für die Entscheidungsfindung notwendigen Tatsachen aufklären. Sofern der Nachprüfungsantrag nicht offensichtlich unzulässig oder unbegründet ist, fordert sie bei der Vergabestelle die Vergabeakten an. Damit hat die Vergabekammer im Oberschwellenbereich sogar die gesetzliche Pflicht, den Vergabevermerk als Teil der Vergabeakte anzufordern (§ 163 GWB). Ausdrücklich verweist das Landgericht Oldenburg darauf, dass die in § 163 GWB enthaltenen Bestimmungen für diesen konkreten Fall nicht einschlägig seien, da es sich hierbei um eine Unterschwellenvergabe handelt.
Der Antragsteller kann im Oberschwellenbereich gem. § 165 GWB Einsicht in die Vergabeakten nehmen, sofern nicht Betriebs- oder Geschäftsgeheimnisse betroffen sind. Eine entsprechende Regelung existiert im Unterschwellenverfahren (bewusst) nicht.
Für den Unterschwellenbereich hat nunmehr das Landgericht aus Sinn und Zweck des Dokumentationsgebots eine möglicherweise gewagte Kette an Schlüssen gezogen:
- Das Dokumentationsgebot diene der Transparenz und Gleichbehandlung.
- Damit diene die Dokumentation insbesondere auch dem Schutz der Bieter.
- Dementsprechend habe der Bieter ein subjektives Recht, dass der Vergabevermerk gem. VOB/A erstellt wird.
- Folglich kann die Dokumentation im zivilrechtlichen Schadensersatzprozess als Beweismittel verwendet werden.
Dogmatisch bemerkenswert ist, dass auch ohne die Geltung des § 97 Abs. 6 GWB („Unternehmen haben Anspruch darauf, dass die Bestimmungen über das Vergabeverfahren eingehalten werden“) im Unterschwellenvergaberecht aus der Interpretation von Sinn und Zweck einer Vorschrift subjektive Rechte (wie konkret im Hinblick auf das Akteneinsichtsrecht) abgeleitet werden. Die eingangs beschriebene Zweiteilung des Vergaberechts wird dabei nicht berücksichtigt.
Auch wird nicht gewürdigt, dass es im Unterschwellenvergaberecht Informations- und Auskunftspflichten gibt (§ 46 UVgO). Für eine weitere Offenlegung des Vergabevermerks durch den Auftraggeber mangelt es an einer dem § 163 GWB vergleichbaren gesetzlichen Verpflichtung.
Selbstverständlich kann man die Entscheidung des Landgerichts aus Sicht der Rechtmäßigkeit und des effektiven Rechtsschutzes begrüßen. Letztlich stellt diese aber eine Weiterentwicklung dar, die das bisherige System verlässt.
Hinweise für die Praxis
Ob die Anweisung „Schule macht“ bleibt abzuwarten. Vergabestellen kann mit Blick auf die u.E. vorliegende Zunahme von Schadensersatzfällen im Kontext von Vergabeverfahren nur angeraten werden, für Vergabevermerke im Unterschwellenbereich die gleiche Sorgfalt walten zu lassen wie bei Vergaben im Oberschwellenbereich.
Verwandte Beiträge
Bildquelle: BCFC – shutterstock.