Nicht selten wird das Abrufvolumen von Rahmenverträgen auch deshalb explizit begrenzt, um zu dokumentieren, dass sich der Auftrag unterhalb des relevanten Schwellenwertes bewegt. Dass es allerdings nicht auf die wertmäßige Begrenzung auf einen Betrag unterhalb des Schwellenwertes, sondern auf die ordnungsgemäße Schätzung ankommt, hat die Vergabekammer (VK) Südbayern in ihrem jüngst ergangenen Beschluss (vom 05.08.2019, Az: Z 3 – 3 – 3194 – 1 – 14 – 05 / 19) klargestellt.

Der Sachverhalt

Ein kommunales Krankenhaus forderte ohne Bekanntmachung mehrere Unternehmen auf, ein verbindliches Angebot über den Abschluss einer „Rahmenvereinbarung über Primärkodierung“ stationärer Behandlungsfälle aller medizinischen Fachbereiche am Standort Klinikum I… einschließlich eines Rahmenvertrages einzureichen.

Der Autor

Norbert Dippel ist Syndikus der cosinex sowie Rechtsanwalt für Vergaberecht und öffentliches Wirtschaftsrecht. Der Autor und Mitherausgeber diverser vergaberechtlicher Kommentare und Publikationen war viele Jahre als Leiter Recht und Vergabe sowie Prokurist eines Bundesunternehmens tätig.

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Innerhalb der Vertragslaufzeit sollte die Beauftragung an den Auftragnehmer nach Bedarf erfolgen. Die Vertragslaufzeit sollte ein Jahr mit Verlängerungsoption von maximal vier Jahren betragen, falls der Vertrag nicht schriftlich gekündigt wird. Gemäß der Aufforderung zur Abgabe des Angebots wurde das maximale Auftragsvolumen auf 200.000 € netto festgelegt. Wenn dieser Auftragswert erreicht wird, sollte der Vertrag automatisch enden.

Das Krankenhaus hatte den Auftragswert über vier Jahre auf maximal 200.000 EUR netto geschätzt. In den Jahren 2000 bis 2017 seien keine Buchungen für Primärkodierung durch Fremdfirmen erfolgt und 2018 seien Zahlungen von insgesamt netto 135.840 EUR (161.650 EUR brutto) erfolgt.

Nachdem die Angebote mehrerer Unternehmen eingegangen waren, wurde ein Vertrag mit der späteren Beigeladenen geschlossen.

Ein weiterer Bieter (die spätere Antragstellerin) erfuhr durch ein Telefonat von der Beauftragung und rügte, dass der Dienstleistungsauftrag nicht europaweit ausgeschrieben wurde. Insbesondere sei die „Konzeption“ des Verfahrens vergaberechtswidrig. Der Vertrag sei unter Einbeziehung der Verlängerungsoption auf bis zu vier Jahre angelegt, aber das Auftragsvolumen sei auf 200.000 € netto limitiert worden. Für diese betragsmäßige Begrenzung des Auftragsvolumens gebe es keinen sachlichen Grund.

Das durchgeführte Verfahren zeichne sich durch Intransparenz und die Missachtung aller vergaberechtlichen Grundsätze aus. Es seien weder Eignungs-, noch Zuschlagskriterien festgelegt worden.

Vor diesem Hintergrund stellte die Antragstellerin letztlich einen Nachprüfungsantrag und beantragte insbesondere die Feststellung der Nichtigkeit des geschlossenen Rahmenvertrages.

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Die Entscheidung

Mit Erfolg! Zunächst widmete sich die Vergabekammer der Frage, ob der relevante Schwellenwert von 221.000 € überhaupt überschritten wurde, da der Rahmenvertrag hart auf 200.000 € begrenzt und entsprechend geschätzt wurde.

Nach Ansicht der Vergabekammer ist ein Auftraggeber gehalten, in der Sache eine seriöse Schätzung durchzuführen, die den Vorgaben zur Ermittlung des Auftragswertes aus § 3 VgV entspricht. Denn nur, wenn nach einer rechtskonformen Schätzung der Schwellenwert nicht überschritten ist, wird ein öffentlicher Auftraggeber nach § 106 Abs. 1 Satz 1 GWB von der Anwendung der Vorschriften des GWB und damit einer europaweiten Ausschreibung frei. Daher ist diese Schätzung auch nach den Vorgaben des § 8 VgV zu dokumentieren, damit sie der Überprüfung durch die zuständigen Instanzen überhaupt zugänglich sein kann. Naturgemäß gilt dies nicht in der gesamten Schärfe für Vergabeverfahren, deren Auftragswert eindeutig und unzweifelhaft unterhalb der für europaweite Vergabeverfahren einschlägigen Schwellenwerte liegt. Verhält es sich aber so, dass auch der Auftraggeber einen Auftragswert annimmt, der in Richtung der Schwellenwerte tendiert, so ist der Auftraggeber gehalten, seine Schätzung und seine diesbezüglichen Überlegungen umfassend zu dokumentieren. Die Dokumentation kann zwar im Nachprüfungsverfahren nachgeholt werden, aber die Antragsgegnerin hat – auch mit den auf Aufforderung der Kammer zusätzlich vorgetragenen Ausführungen – in ihren Schriftsätzen nicht überzeugend darlegen können, dass sie den Auftragswert vorab pflichtgemäß geschätzt hatte.

Ein pflichtgemäß geschätzter Auftragswert ist jener Wert, den ein umsichtiger und sachkundiger öffentlicher Auftraggeber nach sorgfältiger Prüfung des relevanten Marktsegments und im Einklang mit den Erfordernissen betriebswirtschaftlicher Finanzplanung bei der Anschaffung der vergabegegenständlichen Leistungen veranschlagen würde.

Die Vergabekammer setzte sich intensiv mit der Personalsituation bei dem Auftraggeber auseinander und widerlegte dabei die Auftragswertschätzung des Auftraggebers an verschiedenen Stellen.

Fehlt es an einer ordnungsgemäßen Auftragsschätzung oder an deren Dokumentation, so muss die Vergabekammer im Nachprüfungsverfahren den Auftragswert selbst anhand der eingegangenen Angebote schätzen.

Die Kammer kommt bei ihrer eigenen Schätzung zu dem Ergebnis, dass bei einer ordnungsgemäßen Auftragsschätzung zum Zeitpunkt des Beginns des Vergabeverfahrens der Schwellenwert überschritten gewesen wäre. Maßgeblich ist insoweit die Schätzung des Gesamtwerts der Leistung. Wird ein Gesamtbeschaffungsbedarf in mehrere selbständige Vergaben unterteilt, so ist bei der Auftragsschätzung der Wert des Gesamtprojekts zugrunde zu legen.

Ausdrücklich verwies die Vergabekammer darauf, dass der Auftraggeber die gebotene europaweite Vergabe auch nicht dadurch umgehen konnte, dass sie das Auftragsvolumen betragsmäßig auf 200.000 € begrenzt hatte. Eine mit dem Ziel der Vermeidung eines europaweiten Vergabeverfahrens vorgenommene Begrenzung der Vertragslaufzeit bei an sich längerfristig bestehendem Bedarf stellt eine gem. § 3 Abs. 2 Satz 2 VgV unzulässige Aufteilung des Auftrags und damit eine Umgehung vergaberechtlicher Vorschriften dar.

Der Vergabestelle ist es zwar möglicherweise unbenommen, den einheitlichen Beschaffungsbedarf ggf. in verschiedene Teilaufträge mit einer Deckelung des Auftragswerts aufzuteilen, für die Ermittlung des Schwellenwertes (und damit für die Anwendbarkeit des Kartellvergaberechts) kommt es aber auf den gesamten Beschaffungsbedarf während des vorgesehenen vierjährigen Zeitraums an (vgl. auch § 3 Abs. 7 VgV) – und nicht auf eine besondere Umgehungsabsicht des Vergaberechts im Falle der Aufteilung eines einheitlichen Beschaffungsbedarfes.

Von Praktikern, für Praktiker: Die cosinex Akademie

Zum Erfordernis einer rechtzeitigen Rüge

Der Zulässigkeit des Nachprüfungsantrags steht auch keine Rügepräklusion nach § 160 Abs. 3 S. 1 GWB entgegen, da nach § 160 Abs. 3 S. 2 GWB bei einem Feststellungsantrag nach § 135 Abs. 1 Nr. 2 GWB keine Rügeobliegenheit besteht. Im Gegensatz zum Wortlaut des § 101b Abs. 1 Nr. 2 GWB a.F. knüpft die Rechtsfolge der Unwirksamkeit des § 135 Abs. 1 Nr. 2 GWB nicht mehr an die fehlende Beteiligung anderer Unternehmen an der Auftragsvergabe an, sondern ausschließlich an die unterlassene Veröffentlichung einer Bekanntmachung im Amtsblatt der Europäischen Union. Daher muss auch ein Unternehmen, das die Möglichkeit hatte, sich an der Ausschreibung zu beteiligen, aufgrund der klaren gesetzlichen Regelung des § 160 Abs. 3 S. 2 GWB nicht vorab die unterlassene europaweite Bekanntmachung bei einer de-facto Vergabe rügen.

Zur Unwirksamkeit des Vertrages

Der Nachprüfungsantrag ist auch begründet. Der an die Beigeladene erteilte Zuschlag ist für unwirksam zu erklären. Die Antragstellerin ist durch die unterbliebene gebotene europaweite Ausschreibung in ihren Rechten verletzt.

Was die Rechtsverletzung der Antragstellerin anbelangt, so ist zwar zunächst richtig, dass die Antragstellerin allein infolge des Unterbleibens einer europaweiten Bekanntmachung im Supplement des Amtsblatts der EU keinen Nachteil erfahren hat. Sie hatte Kenntnis von der anstehenden, national publizierten Vergabe erlangt und konnte sich am Wettbewerb beteiligen. Allerdings ist ein Nachteil infolge eines rein nationalen Verfahrens nicht bereits dann ausgeschlossen, wenn die Beteiligung am Wettbewerb möglich war und der Rechtsschutz durch die Nachprüfungsinstanzen gewährleistet ist. Ein Nachteil kann vielmehr auch darin liegen, dass im Rahmen der Durchführung des Vergabeverfahrens Normen zur Anwendung kommen, die sich dem Bieter gegenüber als nachteilig im Vergleich zu den korrekterweise anzuwendenden Normen erweisen. Es ist daher entscheidend, ob der Antragsteller hinreichend dargelegt hat, dass er in einem neu durchzuführenden Vergabeverfahren mit einer europaweiten Ausschreibung eine bessere Chance auf den Zuschlag hätte.

Die Ausführungen der Antragstellerin sind zusammen mit den Unterlagen aus der Vergabeakte ausreichend, um zu beurteilen, dass die Antragstellerin bei einer ordnungsgemäßen europaweiten Ausschreibung bessere Zuschlagschancen gehabt hätte.

Für die Antragstellerin war es nachteilig, dass die Antragsgegnerin weder Zuschlagskriterien noch deren Gewichtung in ihren Vergabeunterlagen bekanntgemacht hatte, obwohl dies gesetzlich vorgeschrieben ist. Die notwendige Transparenz der Zuschlagskriterien war damit nicht gegeben. Erst den Auftragsunterlagen war zu entnehmen, dass der Gesamtpreis der Dienstleistung das alleinige Zuschlagskriterium ist, allerdings waren Preise für diverse Dienstleistungen abgefragt und nicht bekannt gegeben worden, wie diese Preise untereinander in Relation gesetzt würden. Es kann daher nicht ausgeschlossen werden, dass die Antragstellerin in einer europaweiten Ausschreibung bei Kenntnis der Gewichtung der einzelnen Preiskomponenten diese in ihrer Preisgestaltung und Kalkulation anders berücksichtigt hätte und damit ein preislich besseres Angebot als die Beigeladene abgegeben hätte.

Nach Ansicht der Vergabekammer hätte das Unternehmen auf jeden Fall in einem geregelten europaweiten Verfahren, das nach den Grundsätzen des § 97 GWB transparent und willkürfrei durchzuführen gewesen wäre, eine bessere Chance auf den Zuschlag gehabt.

Hinweise für die Praxis

Die vorstehende Entscheidung zeigt einmal mehr: Die kreative Umgehung des EU-Vergaberechts kann zur Verzögerung des Vertragsschlusses und zur Unwirksamkeit bereits geschlossener Verträge führen. In der Praxis ist der hier beschrittene Weg, Rahmenverträge wertmäßig unterhalb des EU-Schwellenwertes zu begrenzen, durchaus verbreitet. Wer diesen Wert nicht mit einer belastbaren Schätzung hinterlegt hat, riskiert die Unwirksamkeit des Vertrages.

Je nach Fallkonstellation winkt umgekehrt den Vergabestellen als Belohnung für ein EU-weites Verfahren die Möglichkeit, diese Rahmenverträge dann im Hinblick auf das Volumen nach oben nicht begrenzen zu müssen (vgl. hierzu auch unsere jüngste Besprechung zu einer entsprechenden Entscheidung der VK Bund).

Bildquelle: BCFC – shutterstock.