Bislang war klar: Soll ein Rahmenvertrag vergeben werden, ist die Höchstmenge des Beschaffungsbedarfes anzugeben, der über diesen Rahmenvertrag gedeckt werden soll. Nunmehr hat die Vergabekammer des Bundes entschieden, dass diese Pflicht nach der aktuellen Rechtslage zumindest dann nicht greift, wenn der Auftragsumfang einer Rahmenvereinbarung von Ereignissen abhängt, die der Auftraggeber nicht sicher vorhersehen und nicht beeinflussen kann. In diesem Fall genügt es, wenn der Auftraggeber für das voraussichtliche Abrufvolumen so valide wie möglich Erfahrungswerte zugänglich macht (Beschluss vom 19.07.2019, VK 1 – 39 / 19).

Der Autor

Norbert Dippel ist Syndikus der cosinex sowie Rechtsanwalt für Vergaberecht und öffentliches Wirtschaftsrecht. Der Autor und Mitherausgeber diverser vergaberechtlicher Kommentare und Publikationen war viele Jahre als Leiter Recht und Vergabe sowie Prokurist eines Bundesunternehmens tätig.

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Zum Sachverhalt

Ein öffentlicher Auftraggeber führte ein europaweites offenes Verfahren mit dem Ziel der Vergabe eines Rahmenvertrags zur Erbringung von Unterstützungsdienstleistungen im Rahmen der Fallbearbeitung durch. Der zu beauftragende Dienstleister soll bei saisonalen Spitzen Fälle im Bereich der gesetzlichen Kranken- und Pflegeversicherung (bspw. Kostenerstattungsanträge) abarbeiten.

Die Vertragslaufzeit beträgt zwölf Monate mit drei jeweils einjährigen Verlängerungsoptionen.

In der EU-Bekanntmachung machte der Auftraggeber unter „Geschätzter Gesamtwert“ (Ziffer II.1.5) keine Angaben. Allerdings verwies er unter Ziffer II.2.4 „Beschreibung der Beschaffung“ hinsichtlich der Menge der vom Auftragnehmer zu erbringenden „Bearbeitungsprozesse“ und der Abrufzeiträume auf das Leistungsverzeichnis und eine Anlage. Die entsprechende Anlage „Mengengerüst“ enthielt eine Tabelle, in der zu jedem der ausgeschriebenen Bearbeitungsprozesse auf Erfahrungswerten der letzten Jahre beruhende Fallzahlen je Monat aufgeführt wurden. Zwischen den einzelnen Monaten schwankten diese Mengen erheblich, bei einigen Bearbeitungsprozessen fielen für mehrere Monate überhaupt keine Fälle an. Absolute Fallmengen wurden nicht zugesichert.

In dem Nachprüfungsverfahren vor der Vergabekammer ging es u.a. um die Frage, ob in der Bekanntmachung nicht zwingend der geschätzte Gesamtwert der Leistung hätte angegeben werden müssen.

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Die Entscheidung

Die Vergabekammer sah keine Verpflichtung des Auftraggebers, bei dieser Rahmenvereinbarung das maximale Abrufvolumen, den maximalen Auftragswert und die abzurufenden Höchstmengen anzugeben.

Ausgangspunkt ihrer Überlegungen war § 21 Abs. 1 Satz 2 VgV. Demnach muss ein öffentlicher Auftraggeber bei Rahmenvereinbarungen das in Aussicht genommene Auftragsvolumen nur so genau wie möglich ermitteln und bekannt geben, braucht dies aber nicht abschließend vorab festzulegen.

Dabei betonte die Vergabekammer die Besonderheiten des Falles: Der tatsächliche Auftragsumfang der Rahmenvereinbarung hing von Ereignissen ab, die die Vergabestelle nicht sicher vorhersehen und nicht beeinflussen konnte. Letztlich wurde das Auftragsvolumen von der Inanspruchnahme der Versicherungsleistungen durch ihre Versicherten bestimmt. Dies lag jedenfalls nicht vollständig in der Beeinflussungssphäre des Auftraggebers.

In einem solchen Fall genügt es, wenn der Auftraggeber so valide wie möglich Erfahrungswerte zugänglich macht, die ihm bekannt sind und die er mit zumutbarem Aufwand ermitteln kann. Dies hat der Auftraggeber hier getan. Er hat den Bietern eine Liste zur Verfügung gestellt, aus der diese basierend auf den Erfahrungswerten der letzten Jahre die monatlichen Fallzahlen der einzelnen Bearbeitungsprozesse und die hierbei auftretenden Schwankungen ersehen konnten. Über weitere valide Daten verfügte der Auftraggeber nicht. Auch wenn weiterhin hinsichtlich des Auftragsumfangs erhebliche Kalkulationsrisiken bei den Bietern verbleiben, war die Vorgehensweise der Vergabestelle nach Ansicht der Vergabekammer vergaberechtskonform.

Art. 33 Abs. 1 UAbs. 2 der RL 2014/24/EU, der durch § 21 VgV in deutsches Recht umgesetzt wurde, verlangt ebenfalls nur, dass die in Aussicht genommene Menge vom Auftraggeber „gegebenenfalls“ im Vorhinein festgelegt werden muss.

Nach Ansicht der Vergabekammer steht dem auch nicht die Entscheidung des EuGH vom 19. Dezember 2018 (Rs. C-216/17) entgegen. Sie ist bereits deshalb nicht auf dieses Verfahren übertragbar, weil sie ausdrücklich zur alten Rechtslage nach der RL 2004/18/EG erging, die sich gerade in dem hier relevanten Punkt entscheidend geändert hat. So mussten Bekanntmachungen bei Rahmenvereinbarungen über Dienstleistungen nach dem früheren Recht u.a. die Angabe „des für die gesamte Laufzeit der Rahmenvereinbarung veranschlagten Gesamtwerts der Dienstleistungen“ enthalten (s. Art. 36 Abs. 1 i.V.m. Anhang VII Teil A der RL 2004/18/EG). Demgegenüber verlangt das aktuelle Recht nur noch, dass der Wert oder die Größenordnung der zu vergebenden Rahmenvereinbarung „soweit möglich“ angegeben wird (Art. 49 i.V.m. Anhang V Teil C Nr. 10a) der RL 2014/24/EU).

Dabei wies die Vergabekammer noch auf einen Widerspruch in der „alten“ Rechtslage hin: Die Bekanntmachungsregelungen in Anhang VII Teil A der RL 2004/18/EG widersprachen schon nach früherem Recht nicht nur der schon damals gültigen Legaldefinition der Rahmenvereinbarung (vgl. Art. 1 Abs. 5 der RL 2004/18/EG), sondern auch dem typischen Charakter einer Rahmenvereinbarung, bei der die abzurufende Menge bei Auftragsvergabe regelmäßig noch nicht feststeht. Ansonsten könnte der Auftraggeber einen „normalen“ Dienstleistungsauftrag (Sukzessivleistungsvertrag) mit entsprechender Laufzeit ausschreiben. Unabhängig von diesem Widerspruch korrespondiert die Vorgehensweise des Auftraggebers jedenfalls mit der aktuellen EU-Rechtslage.

Zum Schluss widmete sich die Vergabekammer einem Sonderaspekt: Ob die aktuellen EU-Bekanntmachungsregeln verlangen, dass die Erfahrungswerte, die der Auftraggeber den Bietern erst in den Vergabeunterlagen mitgeteilt hat, bereits in der EU-Bekanntmachung anzugeben sind (ggf. hätte ein Link in der EU-Bekanntmachung gereicht, jedoch nicht der Verweis des Auftraggeber in Ziffer II.2.4 der EU-Bekanntmachung auf das „Mengengerüst“ als Anlage zum LV), ist nicht zu entscheiden. Selbst wenn dies zutreffen sollte, wäre der Bieter durch diesen Vergaberechtsverstoß nicht in seinen Rechten verletzt, weil er sich auch ohne die Bekanntmachung dieser Erfahrungswerte am Vergabeverfahren beteiligt hat.

Auch hat der Bieter selbst nichts dazu dargetan, inwiefern die vorherige Bekanntmachung des „Mengengerüsts“ seine Zuschlagsaussichten verbessert hätte.

Von Praktikern, für Praktiker: Die cosinex Akademie

Praktische Hinweise

Die vorstehende Entscheidung ist kein Freibrief, bei der Schätzung des Auftragsvolumens von Rahmenverträgen nachlässig zu werden. Nach wie vor muss das potentielle Auftragsvolumen so genau wie möglich ermittelt werden. Nur dort, wo dies nicht möglich ist, genügen die Hinweise auf die Werte der Vergangenheit.

Insoweit stellt sich auch die Frage, ob der Sachverhalt des angesprochenen EuGH-Urteils tatsächlich im Widerspruch zu der Entscheidung der Vergabekammer des Bundes steht. Die betreffenden Leistungen der Gebäudereinigung und der Abfallentsorgung waren insoweit prognostizierbarer als die dem aktuellen Fall zugrunde liegenden Unterstützungsleistungen bei Auftragsspitzen im Bereich der gesetzlichen Kranken- und Pflegeversicherung.

Die Erleichterungen bei der Mitteilung der Auftragsvolumina haben immer auch eine Kehrseite: Gerade wenn es um harte Leistungsverpflichtungen und ggf. damit verbundene Pönale geht, wird es potentiellen Vertragspartnern schwerer fallen und sich ggf. auch nachteilig auf die Kalkulation der Preise auswirken, wenn Auftragsvolumina nicht nach oben gedeckelt sind. Auch insoweit ist weiterhin Vorsicht geboten.

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