In diesem Beitrag möchten wir Ihnen eine neuere Entscheidung der Vergabekammer Südbayern (Beschluss vom 14.08.2015, Az.: Z3-3-3194-1-34-05/15) vorstellen, die sich mit der Prüfpflicht bei ungewöhnlich niedrigen Angeboten befasst und Ihnen am Ende des Beitrags aufzeigen, wie sich die hieraus ergebenen Anforderungen heute bereits im cosinex Vergabemanagementsystem abgebildet werden.
Ist der Preis eines Angebotes mehr als 20% geringer als der Gesamtpreis des preislich zweitplatzierten Angebots, ist bei einem solchen Preisabstand die sog. Aufgreifschwelle für eine zwingende Überprüfung überschritten. Auch mit Hinweis auf einen „umkämpften Anbietermarkt“ ist das Absehen von einer Prüfung des ungewöhnlich niedrigen Preises nicht mehr zu vertreten.
Die Vergabestelle trifft insoweit eine Prüfpflicht. Sie hat in diesen Fällen kein Ermessen, sondern muss, wenn ein ungewöhnlich niedriges Angebot indiziert ist, nach dem Wortlaut des § 16 Abs. 6 VOL/A bzw. § 19 Abs. 6 EG VOL/A, ebenso wie nach Art. 55 Abs. 1 RL 2004/18/EG und Art. 69 Abs. 1 RL 2014/24/EU, über einen Zwischenschritt in die Aufklärung des Angebotspreises eintreten.
Zur der Frage, ab wann eine solche Prüfpflicht greift, erläutert die Vergabekammer:
Eine Überprüfung der Auskömmlichkeit von besonders niedrigen Angebotspreisen hat der Öffentliche Auftraggeber grundsätzlich dann vorzunehmen, wenn die Gesamtpreise der konkurrierenden Angebote so weit auseinander liegen, dass der Eindruck entsteht, dass ein Angebotspreis unangemessen niedrig erscheint. Dabei ist in der Rechtsprechung anerkannt (vgl. z.B. OLG Düsseldorf, Beschluss v. 23.03.2005 – Az. Verg 77/04; OLG Düsseldorf, Beschluss v. 23.01.2008 – Az. Verg 36/07; OLG Münch Beschluss v. 02.06.2006 – Az. Verg 12/06; OLG Düsseldorf, Beschluss v. 25.04.2012 – Az. Verg 61/11m.w.N.), dass die Öffentlichen Auftraggeber ab einer Differenz von 15 bis 20% (sog. Aufgreifschwelle) eine solche Überprüfung vornehmen sollten.
Fraglich ist, ob sich ein zweitplatzierter Mitbewerber hierauf auch berufen darf, mithin die Prüfpflicht drittschützenden Charakter entfaltet.
Entscheidung des EuGH aus 2012
Bereits im Jahr 2012 stellte auch der Europäische Gerichtshof (EuGH) mit Urteil vom 29. März 2012 (Rs. C-599/10) klar, dass eine Verpflichtung Öffentlicher Auftraggeber bestehe, den Bieter bei einem Angebot mit einem ungewöhnlich niedrigen Preis schriftlich aufzufordern, sein Angebot zu erläutern.
Ob diese Prüfung der Auskömmlichkeit allein den Auftraggeber schützt und sich damit nicht als „drittschützend“ darstellt, wurde seit Jahren umfassend diskutiert. Da der EuGH diese Aufklärungspflicht als Ausfluss der Grundsätze der Gleichbehandlung und Transparenz verstand, wurde in diesem Urteil auch die Grundlage für eine mögliche Abkehr von der bisherigen nationalen Rechtsprechung gesehen, wonach Wettbewerbern grundsätzlich kein subjektives Recht auf Ausschluss eines nicht auskömmlichen Angebots zusteht (so auch Ott, in Vergabeblog.de 13/05/2012, Nr. 12764).
Auf diese Frage geht die Vergabekammer in ihrem Beschluss ein:
Dies führe zu der Frage, (…)
„ob das Urteil des EuGH vom 29.3.2012 dahin verstanden werden kann oder muss, dass der im Lichte des Art. 55 RL zu lesende § 19 EG Abs. 6 VOL/A nicht nur dem vom Ausschluss bedrohten Bieter, sondern auch seinem konkurrierenden Mitbewerber subjektive Rechte in Bezug auf die Durchführung eines Zwischenverfahrens und eine sich daran anschließende Entscheidung über einen etwaigen Ausschluss des betroffenen Bieters einräumt“ (VK Westfalen, Beschluss vom 22.04.2015 – Az. VK 1-10/15).
Die Vergabekammer Südbayern hat bereits im Beschluss vom 16.04.2014 – Az.: Z3-3-3194-1-05-02/14 darauf hingewiesen, dass sich dieses Ergebnis zumindest nicht unmittelbar aus der Entscheidung des EuGH herleiten lässt, weil der EuGH dort über den Fall zu entscheiden hatte, dass ein Angebot aufgrund eines ungewöhnlich niedrigen Preises ausgeschlossen werden sollte. Prüfungsmaßstab war insoweit also der Umfang der Aufklärungsmöglichkeiten hinsichtlich des ausgeschlossenen Angebots. Es ging dort um den Schutz der Interessen des Bieters, dessen Angebot ausgeschlossen werden soll und nicht um den Schutz eines dritten Bieters. Dazu hat der EuGH direkt nichts ausgeführt.
Rechte der Bieter in Fällen zweifelhafter Auskömmlichkeit der Angebote von Mitbewerbern
Jedenfalls für den vorliegenden Fall erkennt dann auch die Vergabekammer – ungeachtet der vorgenannten Ausführungen sowie einer weitergehenden Darstellung zum Meinungsstreit im Beschluss – an, dass diese Differenzierung im konkreten Fall nur dogmatischen Charakter hat:
…ist die erkennende Vergabekammer der Auffassung, dass zumindest im vorliegenden Fall, wo eine ausreichende Prüfung des ungewöhnlich niedrigen Angebots der Beigeladenen vor der mündlichen Verhandlung der Vergabekammer vom Auftraggeber bewusst gar nicht und nach der mündlichen Verhandlung – soweit aus dem nicht nachgelassenen Schriftsatz vom 06.08.2015 ersichtlich – nur völlig rudimentär durchgeführt worden ist und die Antragstellerin zudem substantiiert ein unlauteres Bieterverhalten durch zu geringen Fachpersonaleinsatz in der Kalkulation behauptet hat, die konkurrierende Antragstellerin durch das Vorgehen der Vergabestelle in ihren Rechten verletzt ist.
…und bejaht damit, dass sie ungeachtet der differenzierten Einschätzung zum Urteil des EuGH durchaus Fallkonstellationen sieht, in denen sich Bieter auf die Nichtauskömmlichkeit von Angeboten weiterer Mitbewerber und die Prüfpflicht der Vergabestelle im Rahmen von Nachprüfungsverfahren berufen dürfen.
Hinweis für die Nutzer unserer Lösung VMS
Wie das cosinex Vergabemanagementsystem Vergabestellen bei der Prüfung ungewöhnlich niedriger Angebote unterstützt, beleuchten wir in diesem Beitrag:
Verwandte Beiträge