Vorwirkung EU-Vergaberichtlinie

Die „Vorwirkung“ der EU-Vergaberichtlinien wird in der Praxis zum Teil noch unterschätzt. Ende letzten Jahres nahm das OLG Düsseldorf (19.11.2014, VII-Verg 30/14) Stellung zur bereits damals diskutierten Frage, ob und inwieweit die EU-Vergaberichtlinien mit Inkrafttreten, aber vor Ablauf der Umsetzungsfrist bereits zu beachten seien. Klar ist, dass nach Ablauf der Umsetzungsfrist – unabhängig von einer rechtzeitigen Umsetzung in deutsches Recht – die Regelungen der Richtlinie anzuwenden sind. Aber EU-Richtlinien entfalten generell bereits zu einem früheren Zeitpunkt eine entsprechende Vorwirkung.

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In dem konkreten Beschluss stellte das OLG auch für die EU-Vergaberichtlinien klar, dass diese in jedem Fall zu beachten seien, wenn die zugrunde liegende Regelung hinreichend bestimmt ist und den Mitgliedstaaten kein Spielraum bezüglich der Ausgestaltung zukommt.

Der wohl jüngste Fall betrifft einen Beschluss der 2. Vergabekammer des Landes Sachsen-Anhalt (vom 10.09.2015, 2 VK LSA 06/15) zu der Frage, ob die Vorgabe einer gesonderten (vor der Angebotsfrist liegenden) Frist für die Abforderung der Vergabeunterlagen zulässig sei. Die Vergabekammer verneint dies insbesondere unter Hinweis auf die Regelung der neuen EU-Vergaberichtlinien.

Zur Argumentation im Beschluss

Die Antragsgegnerin führte an, dass sich aus dem Begriff „rechtzeitig“ in § 12 Abs. 7 VOL/A EG die Möglichkeit einer Fristbestimmungsvorgabe für die Abforderung der Vergabeunterlagen entnehmen ließe. Ebenso spräche die RL 2004/18/EG, Anhang VII, Teil A, Nr. 11 lit. b) aufgrund ihrer Formulierung “Gegebenenfalls Frist, bis zu der die Unterlagen angefordert werden können“ für eine Fristsetzung. Die Muster der Standardformulare für Bekanntmachungstexte bei offenen Verfahren enthielten die für den Auftraggeber sinnvollen Angaben.

Anders als die VK Sachsen-Anhalt habe die Vergabekammer des Bundes am 05.10.2012 (VK 3-114/12) nachvollziehbar entschieden, dass das Setzen einer Frist nicht vergaberechtswidrig sei. Diese trage dazu bei, dass die Angebote durch frühzeitiges Vorliegen der Vergabeunterlagen bei den Bietern sorgfältig erstellt werden können. Die Fristsetzung sei zudem sachlich begründet und angemessen.

Der Argumentation folgt die Vergabekammer in ihrem Beschluss nicht: Nach § 12 EG Abs. 7 VOL/A müssen die Auftraggeber die Vergabeunterlagen innerhalb von sechs Tagen nach Eingang des Antrags an die Unternehmen absenden, sofern diese rechtzeitig angefordert worden sind und die Unterlagen nicht auf elektronischem Wege verfügbar gemacht wurden. Nach § 15 EG Abs. 11 lit. a) VOL/A sind die Vergabeunterlagen an alle anfordernden Unternehmen zu übermitteln. Aus diesen Vorschriften kann geschlussfolgert werden, dass ein öffentlicher Auftraggeber verpflichtet ist, einem Interessenten die Vergabeunterlagen zuzusenden, sofern ein entsprechender Antrag so rechtzeitig vor dem Schlusstermin für den Eingang der Angebote eingegangen ist, dass dem Auftraggeber noch sechs Tage für die Versendung der Unterlagen verbleiben (vgl. VK Sachsen vom 19.04.2012-1/SVK/009-12).

Eindeutig ist dann auch die Entgegnung zu dem Verweis auf die Richtlinie 2004/18/EU: Entgegen der Auffassung der Antragsgegnerin sei ein Auftraggeber auch europarechtlich nicht berechtigt, eine derartige Frist zu setzen. Zwar sieht hinsichtlich des Bekanntmachungstextes die Richtlinie 2004/18/EG Anhang VII Teil A Nr. 11 lit. b) vor, dass die Auftraggeber gegebenenfalls eine Frist setzen können, bis zu der die Unterlagen angefordert werden können. Diesbezüglich verdrängt jedoch Art. 53 Abs. 1 der neueren Richtlinie 2014/24/EU die Regelungen der früheren Richtlinie 2004/18/EU. Insoweit sei die Entscheidung der VK Bund vom 05.10.2012 – VK 3-114/12 überholt.

Nach Art. 53 Abs. 1 der o.g. Richtlinie bieten die öffentlichen Auftraggeber ab Bekanntmachung unentgeltlich einen uneingeschränkten und vollständigen direkten Zugang anhand elektronischer Mittel zu diesen Auftragsunterlagen an. Kann ein solcher Zugang nicht angeboten werden, so können die öffentlichen Auftraggeber die Unterlagen nicht elektronisch, sondern durch andere Mittel übermitteln. Diese Vorgaben sind bei der Auslegung des § 12 EG Abs. 7 VOL/A zu berücksichtigen, auch wenn die Richtlinie noch nicht in nationales Recht umgesetzt wurde. Sie ist aber gemäß Art. 93 der RL 2014/24/EU bereits in Kraft getreten und entfalte eine entsprechende Vorwirkung.

Für die Praxis

Der Beschluss zeigt, dass selbst wenn, wie hier, nur die (noch aktuellen) EU-Formulare angewendet werden, Angaben möglich sind, die nach Maßgabe der „Vorwirkung“ der neuen EU-Vergaberichtlinien zu Vergabefehlern führen können.

Nutzern unserer Lösungen haben wir auch vor Inkrafttreten der neuen Richtlinien – jedenfalls bei einer elektronischen Bereitstellung der Vergabeunterlagen – empfohlen, die Frist für die Anforderung der Vergabeunterlagen mit der Angebotsfrist gleichzusetzen. Bereits seit Version 6.3 des Vergabemarktplatzes, die Ende 2013 veröffentlicht wurde, können Betreiber einer Installation einstellen, ob diese Frist durch die Nutzer der Vergabestellen überhaupt angezeigt wird.

Mit der nächsten regulären Version der Lösungen Vergabemarktplatz und Vergabemanagementsystem werden wir die Möglichkeit der Angabe für diese Frist entfernen, um etwaige Fehleingaben zu vermeiden.